Original

19. Oktober 1921

Von Zeit zu Zeit taucht in unserm Straßenbild eine neue Erscheinung auf, die nach Großstadt aussieht.

Am charakteristischsten für die Großstadt ist die Licht-Neklame. Als hier der Pole Nord anfing, den Kopf der Neuen Brücke und die ganze Umgebung mit elektrischen Lichtfluten zu überschwemmen, schämten sich die Bäume und Sträucher im Petrußtal ihres ländlichen Aussehens, und jedermann sagte, es sei grade, wie in einer großen Stadt.

Jetzt hat der „Majestte“ noch einen Schritt weiter getan und die bewegliche Lichtreklame eingeführt.

Ich erinnere mich des Augenblicks, wo die Trambahn zum ersten Male ein ganz bezeichnendes Großstadtgeräusch in unsern Straßen weckte: Es war der seltsame Flötenton, den die Trambahnräder zusammen mit den Schienen erzeugen, wenn es um eine Ecke geht. Aehnliches hatte man hier nie gehört, und die ersten Töne dieser Art gaben einem die Illusion, daß man in irgend einer Großstadt die ersten Margentrambahnen unten beim Hotel um die Ecke fahren hörte.

Einen ähnlichen Großstadteindruck hat man jetzt jeden Abend auf dem Paradeplatz. Sobald es dunkel wird, beginnen an der Fassade des „Mäjestic“ die kleinen Flämmchen, das senkrechte Schild zu erklettern. Erst steht unten der Anfangsbuchstabe plötzlich wie trillernd vor Licht in dem Abenddunkel. Hurtig, mit affenartiger Geschwindigkeit turnen die Flämmchen hinauf, von Buchstabe zu Buchstabe, bis sie siegreich beim Schluß-c auf dem Gipfel gelangt sind. Und haste nicht gesehn! schwingt sich ganz zu allerletzt noch das Tüpfelchen auf das letzte i. Es ist erreicht! Majestätisch strahlt der Name über den Platz und übergießt das ganze Viereck und die Häusersassaden und die Baumwipfel mit sanftem Licht.

Und dann, plötzlich, wie weggeblasen die ganze Herrlichkeit. Der Platz liegt wieder im Dämmerdunkel, gegen das die Lichter aus den Cafehäusern ohnmächtig sind und das sich seiner wiedergewonnenen Herrschaft zu freuen scheint.

Aber es dauert nur ein Weilchen. Die Kletterpartie beginnt wieder von vorne, husch husch, vom großen M bis zum kleinen e und dem letzten Tüpfel auf’s i. Haben Sie schon eine Ameise gesehen, die ihr Eil einen Sandhaufen hinauf schaffen will? Zehnmal langt sie oben an, zehnmal rollt ihr das Ei wieder in die Tiefe und zehnmal beginnt sie von neuem ihre Sisyphusarbeit. Genau so das Flämmchen am Schild des Majestic Fast ist es, als ob die Lichter klängen, als ob sie den Vorübergehenden zuriefen: Immer hereinspaziert, meine Herrschaften! Immer aufs neue, wie der unermüdliche Anreißer. Alles lacht! Alles muß lachen’ Beginn der Vorstellung sofort! Die Kopelle!

Es ist wie in der Großstadt und es ist ja doch wieder nicht, wie in der Großstadt.

Es macht in der Beleuchtung des Opernplatzes in Paris oder der Place Rogter in Brüssel keinen Unterschied. ob die Reklame für Maggi oder für die neueste Zigarette oder für die Sunlight-Seife grade flammt oder eine Pause macht. Der Lichtteppich, der sich über die Erde breitet, bleibt in einem fort derselbe.

Hier springt die Lichtreklame heraus, wie auf einen Präsentierteller. Sie ist allein, konkurrenzlos. Sie macht hell und dunkel. Sie ist wie ein Rufer in der Wüste.

Eine Schwalbe macht keinen Sommer, wenn sie auch die erste ist. Aber es ist doch schon eine Schwalbe, und wir grüßen sie.

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    Katalognummer BW-AK-009-1993