Original

21. Oktober 1921

Auf der letzten Seite des „Jürnjakob Swehn der Amerikafahrer“, von Johannes Gillhoff, steht zu lesen: „Die Wolken schoben sich schwarz herauf. Nur wo der Mond stand, wurden sie ein wenig heller. Sie wollten gern länger bleiben in seinem freundlichen Schein. Es ging nicht. Sie wurden weiter geschoben von den andern und sanken wieder hinein in die Nacht. Für die andern war das auch man ein kurzes Vergnügen.“

Das sieht nach nichts aus und ist doch tiefe Weltweisheit. Es paßt auf Großes und auf Kleines und zumal auf das Menschenleben im Großen und im Kleinen. Es enthält z. B. das ganze Rezept, nach dem Kommunismus und Sozialismus ad absurdum zu führen wären. Jeder soll seine Zeit abwarten. Es braucht schon drei Generationen, bis ein Edelmann wird, sagte man in Frankreich zur Zeit, wo die Gdelleute noch höher im Kurs standen. Wieviel Zeit wird es denn brauchen, bis ein Führer der Menschheit sich aus dem Rohstoff einer Familie entwickelt? Jeder soll, wie gesagt, abwarten, bis er ins Licht geschoben wird. Wenn einer persönlich nicht dran kommt, soll er sich mit der Solidarität der Ge- schlechterreihen trösten, auf die ja schon die Theorie der Erbsünde aufgebaut ist.

Das Gleichnis des Wolkengeschiebes paßt auch auf Kleines. Wer z. B. im Juni seinen Urlaub hat, wird von denen beneidet, die ihren Urlaub um August haben, und beneidet seinerseits später die, die ihren Urlaub im September oder Oktober haben. Zumal heuer, wo der September und der Oktober herrlicher waren, als Juni, Juli und August.

Werde Philosoph und lerne, Dich in der Erwartung und Erinnerung freuen, statt nur im Stadium des Besitzes. Dann brauchst Du niemand zu beneiden. Koste heute die Wochen wieder durch, die Dir gehörten, wo Du gerne auf die Errungenschaften der Stadtkultur verzichtetest, um nur Du zu sein. Ach, die kostliche Zeit, wo man Kippschale und fließendes Wasser bei der Toilette gern entbehrte und mit Wonne das Gesicht in der großen Steingutschüssel badete, die beim Antippen klang, wie sentimentale Abendglocken. Wo man im weltfernen Dahinleben auf die Wochentage vergaß und sich kindlich freute an Wolken und Wellen und Bäumen und „andern gesprenkelten Naturerscheinungen“ - siehe Gottfried Keller, Die drei gerechten Kammacher. Ist dieser Erinnerungsgenuß nicht viel schöner, als der Neid über die Ferien der andern?

Und dann geht es im Jürnjakob Swehn weiter:

„Ich kam in den Busch, und der Weg wurde holperig. Da muß man nicht denken. Da muß man bloß aufpassen. So gab ich Achtung auf meine Straße und kam nach Hause.“

Das ist ein schönes Nachferienwort von Jürnjakob Swehn und ist ebenfalls zu beherzigen.

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    Katalognummer BW-AK-009-1995