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1. November 1921

Allerheiligen - Allerseelen: Für die einen das erste, für die andern das letzte Fest im Jahr.

Der Ferienmensch der Städte rechnet den Lauf seines Jahres nach den großen Herbstferien. Er fängt das Jahr an, wenn er nach seinen frehen Ferien das Joch wieder einmal auf sich nimmt und schließt es, wenn er reinen Tisch macht, um in die Sommer- und Herbstfrische zu fahren. Jahresanfang bedeutet für ihn den Eintritt in den Jahreskreis seiner Arbeit. Zum ersten Mal öffnet sich ihm dann der Kreis an Allerheiligen, die Arbeitsmaschine setzt zum ersten Mal wieder auf ein paar Tage aus, die Toten haben den Lebenden eine Pause erwirkt. Und weil es die ersten, obgleich die kleinsten Ferien sind, freut man sich ihrer doppelt.

Für den Dorfbewohner ist dies das letzte Fest im Jahr. Sein Jahr ist nicht nach Ferien und Urlaub eingeteilt, der Kreis seiner Arbeitsfron ist unablässig geschlossen, kein Aussetzen der Maschine markiert für ihn Jahresende und Jahresanfang. Er hält sich schlecht und recht an den Kalender, der ihm den Lauf des Jahres mit allerhand festlicher Durchwirkung begleitet. Und die letzte ist eben Allerheiligen, mit dem die ländliche Praxis längst Allerseelen zusammengelegt hat.

Allerheiligen ist das Reifefest und das Fest der letzten Blumen. Jeder fährt mit Chrysanthemen und Astern dahin, wo seine Toten und seine Wurzeln liegen. Manche kommen das ganze Jahr lang nur an diesem einzigen Tage in die engere Heimat. Und die daheim geblieben sind auf der Scholle, messen an dem Aussehen der Verpflanzten die Entfernung nach oben und nach unten, die sie von ihnen trennt.

Wie jedes Fest, steht auch Allerheiligen in einem besondern Zeichen. Im Ösling ist es die Kartoffel, im Süden, an der Mosel, ist es der neue Grächen.

In Knaphoscheid sitzen sie zusammen und besprechen, wie es diesmal mit den Kartoffeln geworden ist. Ob sie schön sind oder zweiwüchsig, mehlig oder „wackig“, ob sie sich gut quellen lassen und welche Sorte sich am besten bewahrt hat. Und ob sie für das Malter 110 oder 112 Franken bekommen werden.

In Wormeldingen aber geht die Rede über den „Neuen“. Wie er vergärt, ob er hart oder mild ist, ob er seinen Mann packt, und was er schon für Missetaten auf dem Kerbholz hat. Und die von außen kommen, lassen sich seine Streiche erzählen und die Schrammen zeigen, die der Nickel und der Klos im Kampf mit dem Racker von Federweißen davongetragen haben. Und man spricht von diesem und dem, den der kühle Rasen deckt und der sicher gerne wiederkäme, um sein Teil zu trinken. Denn so ein Kräutchen, wie heuer, hat es seit Menschengedenken nicht gegeben. Selbst der Fünfundsechziger kann sich nicht mit ihm messen, sagen sie, und der Fünfundsechziger hat niemand, der ihn gegen den Einundzwanziger herausstreichen kann, sintemalen die, die vor 56 Jahren schon trinkfeste Männer waren, heute dünn gesät sind und ganz Bestimmtes nicht mehr aussagen können.

Eins ist sicher: Es sind schon lange nicht mehr soviele Söhne und Töchter der Mesel an die Gräber ihrer Verstorbenen gepilgert, wie in diesem Segensjahr 1921, wo noch an Allerheiligen die Sonne auf die Friedhöfe scheint, als gebe es dort Trauben zu reifen.

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KatalognummerBW-AK-009-2004