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4. November 1921

Eine uralte Weisheit der Völker ist heute stark in Mißkredit geraten. Es ist die Weisheit der goldenen Mittelstraße, des juste milieu, der virtus, die überall in medio liegt. Man hütet sich heute, wie vor dem Gottseibeiuns vor dem Ruf, in der Mitte seinen Weg zu suchen. Das gilt als Senilität, als Charakterlosigkeit, feiger Opportunismus und Schlimmeres. Man ist auf einmal nicht Fleisch und nicht Fisch, nicht Maus und nicht Vogel. Und die Zeitgenossen blicken auf einen mit Verachtung oder, was böser ist, mit jenem Mitleid, in das sich bei selbstgerechten Hohlköpfen die Verachtung manchmal zu verwandeln pflegt.

Die Welt von heute will sich in Extremen ausleben. Zwischen äußerst links und äußerst rechts gibt es keinen als berechtigt anerkannten Standpunkt. Und das ist das sicherste Zeichen dafür, daß die Geister nach der fünfthalbjährigen Erschütterung des Krieges noch nicht zur Ruhe kommen wollen, daß ein böses Ferment die Klärung noch immer hintanhält.

Nach jedem größeren Krieg gerät die Weltwage aus dem Gleichgewicht. Das ist eine Binsenwahrheit. Und ebenso elementar ist es, daß sich allmählich die Wagschalen wieder gleich stellen. Heute merkt man noch nirgends etwas von dieser Wiederkehr des Gleichgewichts. Im Gegenteil, es hat überall den Anschein, als ob man sich davor fürchtete, als ob man die Schalen künstlich im Auf- und Niederschnellen halten wollte. Die Politik, in der sich alle Schwingungen des öffentlichen Lebens auffangen, kennt keine Mittelparteien mehr. Ganz rechts oder ganz links ist die Lesung. Das Gleichgewicht wird als Stillstand verleumdet und verpönt.

Extreme muß es geben, die Wirkung der gegensätzlichen Pole aufeinander bedingt allein Leben und Bewegung, also Fortschritt. Aber das Schwanken hin und her und auf und ab, die Extreme, die Gleichgewichtsstörungen haben als Selbstzweck keine Berechtigung. Der Zweck kann nur der Ausgleich sein. Dahin strebt die Wage ganz von selbst, und dahin strebt nach jeder gewalttätigen Aufstörung die Menschheit. Es wäre somit Kurzsichtigkeit, daß eine Zeit, wie die unsere, die Mittellinie verpönt und sich ganz in Extremen auswirken will, wenn im Übrigen die Vorbedingungen zur Rückkehr des Gleichgewichts gegeben wären.

Vielleicht wäre in diesem Wirrwarr die salomonische Weisheit des alten Moselfischers angebracht, der auch einmal, einer alten Anekdote zufolge, den goldnen Mittelweg gewählt hatte. Ein Freund wollte von ihm seinen neuen Nachen geliehen haben, der Fischer mochte ihn nicht hergeben, aber auch nicht abschlagen. Und so sagte er denn, der Freund solle ihm den Buckel hinaufsteigen.

Vielleicht würde es uns besser, wenn sich einer fände, der mit ähnlicher Entschlossenheit den gordischen Knoten der heutigen Weltlage durchhauen könnte.

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KatalognummerBW-AK-009-2005