Es ist mir mehr als eine Pflicht, es ist mir ein Vergnügen, eine Freude, eine Lust, darauf hinzuweisen, daß heute abend in unserm Stadttheater ein Wunder geschehen wird. Man wird ein französisches Theaterstück spielen, in dem von Liebe die Rede und das trotzdem von der ersten bis zur letzten Szene dramatisches Neuland ist. Für die französische Bühnenliteratur, die in ihrer glanzvollen Überlieferung rund herum geht und den Ausgang nicht finden kann, ist das ein blaues Wunder. Und die Pariser Kritik hat das Stück nicht totgebissen, hat es im Gegenteil gelobt, aber war perfide genug, daran nur das zu loben, was daran am wenigsten neu und wunderbar ist. Es sind die Clichés, die die Kamaraderie der Pariser Kritik für alle Fälle geprägt hat. Man legt an ein Werk, das nach neuen Maßstäben schreit, die alten Beckmesser-Elfen.
„Der Schattenfischer“ heißt das Drama von Jean Sargent. Mit einem Wortspiel könnte man auch „Äschenfischer“ übersetzen, da Äsche auf französisch ombro heißt und der Held eifrig, aber nicht sehr erfolgreich auf Aschen und auf Schatten zugleich fischt, was in seinem armen, müden Hirn dann in eins zusammen fließt. Sein Zustand läßt sich am besten mit Hirnmüdigkeit bezeichnen. Man ahnt gespensterisch atavistische Zusammenhänge, wenn man die Mutter, ein interessantes Gegenstück zu Frau Alving, von ihrem verflossenen Gatten reden hört. Jean von Sarment und Oswald von Ibsen sind sich so familienähnlich, wie keine zwei andern jungen Leute der Weltliteratur. Der Regina in den „Gespenstern“ entspricht bei Sarment eine liebliche Nelly, dem Pastor Manders ein liebenswürdig abgeklärter Bischof. Das alles ohne Anlehnung, ohne die leiseste Beeinträchtigung der Originalität des jungen Franzosen.
Man könnte das Stück auch Kain und Abel, oder der Brudermond nennen. René, der Bruder Jeans, ist ein trockner Sachlichkeitsmensch, die Mutter verschreibt sich Nelly, die Jean vor seiner Erkrankung geliebt hatte, im Zusammenleben mit dem jungen Mann verliebt sich Nelly in ihn und lockt allmählich wieder die ermüdeten Geisteskräfte bis an die Schwelle der vollen Bewußtheit. Da verübt NeuéKain den Mord an seinem Bruder Jean-Abel, indem er, der selbst Nelly gewinnen will, die aufflackernde Flamme löscht und dem Bruder brutal vor den Kopf sagt, diese Nelly sei gar nicht die, die er von früher her kannte und liebte. Hoffnungslos erschießt sich Jean am Fischwasser.
Pathologisch, wenn Sie wollen. Aber eine Pathologie, die durch Kunst verklärt ist. Erst die Umnebelung eines Dichterintellekts, die seltsamen, halb witzigen halb kindischen Einfälle, das allmähliche Aufklären, der schließliche Zusammenbruch, die Zeichnung der übrigen Charaktere, das alles steht auf eigenen Füßen und ist keiner Tradition etwas schuldig. Mich quält nur ein Zweifel: Hat Jean Sarment, der selbst „gelernter“ Schauspieler ist, sich diese Nolle nicht auf den Leib geschrieben und verdanken wir nicht nur diesem Umstand einen Exkurs in das jungfräulich reiche Neuland, das der Dichter hier betritt?
Endlich können wir wieder einmal mit Interesse und Erwartung ins Theater gehen.