Original

9. November 1921

Meminisse juvabit. Jetzt, wo in der Natur draußen die Gardinen abgemacht werden, denkt man auf einmal der Ferientage, wo es im Freien so wohnlich und heimelich war, wie in einer bequem möblierten Stube, wo jeder Rain ein Divan, jeder Strauch ein gemütliches Plaudereckchen, jeder Waldessaum ein verhängtes Fensterchen war und die Sonne die Zentralheizung besorgte.

Also dachte ich der verflossenen Wochen, in denen jeder Tag ein. Sonntag war, ohne die sonntägliche Langeweile. Ich ging grade über das Pflaster der Großstraße. Die Steine klangen hart unter meinen Tritten und schienen trüb unter dem bleiernen Novemberhimmel. Sie waren meinen Sohlen unfreundlich, aber sie trugen mich sicher. Sie waren wie die harten. unumgänglichen, aber zuverlässigen Freunde. Da dachte ich an die Wellen, die mich damals geschaukelt hatten, die so weich waren, daß man in sie hinein wie in eine Liebkosung griff, die mich trugen, aber unter Umständen auch verschlungen hätten, glucksend hinuntergezogen, und ruhig, als sei nichts geschehen, über meine Leiche weggeflossen wären bis in den Rhein und ins Meer. Die sind wie gefährliche Frauen, die so unheimlich viel Männer verbrauchen.

So kommt man dazu, Wellen und Pflastersteine zu vergleichen, sehen Sie, Übrigens, der Vergleich ist gar nicht so dumm. Wenn man eine Fläche einteilt, so kommen in einem Fall die Vierecke der Pslastersteine heraus, in dem andern die Wellenhügelchen. Wenn es regnet, steht des Abends im Lichterschein jeder Pflasterstein in der Großstraße wie eine Welle aus. Nicht ganz, aber etwas Phantasie muß schon sein. Dann kann man sich wirklich einbilden, das Pflaster der Großstraße schlage Wellen.

Der Strom kann es natürlich besser. Er hat man- cherlei Abstufungen von Wellen. Da sind zueist die ganz wintzigen. Sie antworten auf das Anklopfen des Windes mit einem leisen, gedämpften Trtuer. Es fliegt über den Wasserspiegel wie ein Hauch, der aus Tausenden und Hunderttausenden kleiner Wellenkindlein besteht. Sie sind zu den großen, wie Sand zu Steinen. Der Wind wird stärker, der Wasserspiegel zerbricht in lauter handgroße Scherben, aus denen die lieblichen Plätscherwellen werden. Erst war es eine Wellenmosaik, jetzt ist es ein richtiges Wellenpflaster. Der Wind wird zum Sturm und kämmt den Strom zu Berg. Da wird aus dem Wellenpflaster eine Aufruhr, die Steine werden zu Felsblöcken, übereinandergewälzt, schäumend gegen einander aufgerichtet. In weit geschwungenen. Schwaden fliegt es vor den Windsbräuten über den Strom her, mit Flugzeuggeschwindigkeit. Wo die Fahrrinne geht, liegen sich Sturm und Strömung in den Haaren, das Wasser will über den Stiernacken des Sturms zutal und er wirft es hoch und zurück. Die Fahrrinne wird wie das gesträubte Rückgratfell eines langgestreckten Ungeheuers, graugelb und weißgestreift. Man erkennt den Strom nicht wieder. Er ist wild, wie ein Amokläufer. Er kennt seine besten Freunde nicht mehr. Und die Fische verkriechen sich unter die Steine und in die Uferlöcher, bis Wind und Wasser ausgerauft haben.

Das kann das Großstraßpflaster nicht. Aber man kann darin nicht ertrinken. Auch ein Trost, nicht wahr?

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KatalognummerBW-AK-009-2009