Original

10. November 1921

Der englische Humorist Jerome K. Jerome hat ein Buch geschrieben, das unter dem Titel «Three men en the bummel» und unter dem Vorwand, eine Reise von drei Engländern durch Deutschland zu beschreiben, allerhand lustige Geschichten aneinander reiht. Die Umschlagzeichnung stellt den Typ des deutschen Mannes dar, wie ihn sich der englische Zeichner gedacht hat: Ein gedunsenes Blondgesicht mit hängendem Schnurrbart und schwimmenden Äuglein. Dieser Phantasiegermane raucht aus einer Pfeifenkarikatur und hat auf dem semmelblonden Haupt eine kleine, schlappe weiße Kappe, wie sie ganz sicher noch nie aus den Händen eines deutschen Mützenmachers von München bis Memel und von Hadersleben bis Ratibor hervorgegangen, ist. Im Hintergrunde marschieren drei schlanke Athleten in tadellesem Cyeling Dreß auf. Das sind die drei englischen Männer auf dem Bummel.

Man kennt umgekehrt die klassische Gestalt des festländischen Bühnen-Engländers. Wehender Backenbart, grauer Zylinder mit wallendem grünem Schleier, Anzug aus großkariertem Matratzenstoff usw.

Für den Franzesen haben seine deutschen und englischen Nachbarn einen Typ sestgelegt, der nicht weniger lächerlich und unzeitgemäß ist: Halb Mephisto, halb Weinreisender.

Es ist vielleicht vermessen, nunmehr den Finger an die Nase zu legen und zu dozieren, wie wenig im Grunde doch die Völker einander kennen. Läßt man aber die Karikatur als Kunst und den Karikaturisten als Künstler gelten, der nicht immer ein Gliché wiederholen. sondern bei seinen Übertreibungen mit dem Leben und dem Augenblick Fühlung behalten soll, so muß man doch wohl gelten lassen, daß sich die Karikaturenzeichner diesseits und jenseits des Kanals herzlich wenig Mühe geben, ihre Modelle zu studieren. Das gilt nicht nur vom nationalen Typ, sondern von jeder einzelnen Person. Die Deutschen, die ihren Kaiser kannten, schufen von ihm Karikaturen, die wundervolle Charakterchargen waren, die Franzosen und Engländer chargierten nach einer Richtung, die ihnen lag und ihnen die wahre schien, aber fast immer daneben traf.

Nun ist es aber noch viel schlimmer, daß auf andern Gebieten, wo nicht die bewußte Karikatur, sondern die lautere Wahrheit Zweck der Übung ist, so häufig Verzeichnungen für absolut ähnliche Bilder geboten und genommen werden. Wenn Maurice Barrès einen deutschen Oberlehrer schildert, sieht er ebenso schief, wie wenn umgelehrt Rudolf Herzog einen französischen Offizier oder Lissauer einen englischen Minister schildern wollte. Höchstens eine Gesamtheit von Äußerlichkeiten kommt dabei zustande, die Psyche des Ausländers sieht jeder immer durch die Brille seiner Voreingenommenheit und seines Rassestandpunkts.

Kurzum, man sieht einander nur als Karikatur.

Das ist viel bequemer. Aber es ist verhängnisvoll für die Verständigung, ohne die auf die Dauer die europäische Welt schlechterdings nicht auskommen kann. Wissenschaft und Technik liefern der Menschheit heute so ungeheuerliche Zerstörungsmöglichkeiten an die Hand, daß ohne Verständigung Europa im Handumdrehen in ein Trümmer- und Leichenfeld verwandelt werden kann.

Jedes Volk verbessert ständig an sich herum, wie jedes gesunde Individuum mit normal ethischer Veranlagung. Aber diese langsame, oft Jahre hindurch latente Verbesserung wird den andern nicht bewußt, und grade die Karikatur nimmt am widerwilligsten Notiz davon. Wenn zwei Nachbarn im Streit leben, merkt und glaubt auch nie einer vom andern, daß er ein besserer Mensch werden will und wird.

Die Karikaturisten aller Länder tragen also doch einen großen Teil der Schuld daran, daß sich die Völker nicht verstehen lernen. Weil die Herren Karikaturisten zu bequem oder unfähig sind, ihre Opfer nach dem Leben zu studieren.

TAGS
  • function of caricature
KatalognummerBW-AK-009-2010