Haben Sie schon von der neuen Krankheit, dem Barbensieber, gehört? Es waren schon in früheren Jahren vereingelte Fälle aufgetreten, aber im vergangenen Sommer grassierte die Krankheit besonders an unserer Mosel mit seucheähnlicher Hefligkeit.
Sie äußert sich in der Hauptsache durch eine merkwürdige Halluzination. Der Kranke fühlt in seiner rechten Hand das Zurken einer Fischgerte, an der ein dicker, ungelberdiger Fisch sich gefangen hat. Er schlägt ihn an, zieht ihm mit der angelhakengleich gekrümmten Gerte über das Wasser ans Land, sieht den blinkenden Körper mit gesträubten Flossen sich zur Wehr setzen und sich schließlich auf dem Uferkies in ohnmächtigen Sprüngen unbändig hochschnellen. Die Vision wiederholt sich, im Schlaf und auch im Wachen, sobald sie nicht durch eine stärkere Ablenkung verscheucht wird, in Zwischenräumen von zwei bis fünf Minuten. Der Fisch, der in dieser Halluzination eine Rolle spielt, ist immer eine Barbe. Es ist kein Fall bekannt, wo es z. B. ein Hecht, eine Makrele, ein Aal, ein Barsch oder gar ein Walfisch gewesen wäre. Im Anfangsstadium der Krankheit wiegt die Barbe zwei bis drei Pfund, später steigert sich das Gewicht bis zu sechs Pfund. Selten darüber, nie bis sieben oder acht Pfund. Ebenso selten kommt es vor, daß sich die Wahnvorstellung des Kranken über diesen Vorgang hinaus fortsetzt und etwa daraus die kulinarischen Konsequenzen zieht, also in der Einbildung die geländete Barbe auch noch verzehrt.
Die Kunst der Ärzte steht dem Barbenfieber bisher machtlos gegenüber. Es handelt sich dabei offenbar um einen Krankheitserreger, der speziell an größeren Wasserläufen und deren näherer Umgebung bis zu zehn Kilometer Entfernung auftritt. So sind z. B. sehr schwere Fälle an der Mosel und im Binnenland bis Bous, Assel usw. festgestellt worden.
Da eine Heilung nicht zu erzielen ist, verschaffen sich die Kranken dadurch Linderung, daß sie sich „bis an den hohlen Leib“ ins Wasser stellen. Schon die Abkühlung soll wohltätig wirlen. Außerdem bedienen sie sich einer möglichst langen Bambusstange, an deren oberem Ende ein langer Bindfaden befestigt ist. An diesem Bindfaden hängt unten ein Stück Blei, noch tiefer ein sogenannter Drilling, das ist ein dreifacher Angelhaken. Diesen Drilling zieht der Kranke unermüdlich vor sich durchs Wasser hin und her, ganze Vormittage, ganze Nachmittage, ganze Tage lang, vom Frühlicht bis zur Abenddämmerung. Oft kann man zehn, zwanzig, dreißig, fünszig Kranke auf demselben Fleck im Wasser stehen und stillschweigend, die Augen starr auf die Strömung gerichtet, ihre Gerten schwingen sehen. Manchmal ist ihnen der Zufall günstig; ihre Drillinge bleiben an reinem der Barben hängen, die auf dem Boden des Strombettes auf Haufen liegen, sie ziehen von früh bis spät ihren Dreihaken leer aus dem Wässer. Und wenn sie so ein paar Wochen lang nacheinander Glück haben und es fängt sich keine Barbe an ihrem Drilling, dann kann es vorkommen, daß sie das Fieber los sind.
Aber diese Glücksfälle sind selten. Meist geht es so, daß einer, der vielleicht schon halb geheilt war, plötzlich den fatalen Ruck spürt. Und dann spielt sich die Halluzinationsszene in Wirklichkeit von vorn bis hinten ab, das Fieber steigt bei dem Kranken bis zum Paroxysmus, er ist wieder unrettbar auf Wochen und Monate, auf die ganze Dauer der Saison gepackt.
Mit dem Kälterwerden des Wassers kühlt sich allmählich das Fieber ab. Schnupfen und Rheuma tragen ebensalls dazu bei, die Fieberkurve herabzudrücken. Wenn das Wasser an den Ufern handbreite Eiskrusten ansetzt, sieht man die Letzten im Wasser stehen und ihre Gerte schwingen. Die Allerletzten haken an Weihnachten Löcher ins Eis und stellen sich hinein. Wenn der Tod sie nicht von ihrer Krankheit erlöst, fangen sie um Johanni wieder an.