Die Amerikaner überraschen uns durch Manches, was sie tun und was im Gegensatz zu den Gepflogenheiten unserer alten europäischen Kulturscholle steht. Geht man dann der Sache auf den Grund, so ist ihr Tun das Naturgemäße und Selbstverständliche.
Am Konsulat der Vereinigten Staaten, American Building, Maria-Theresienstraße. weht die Fahne auf Halbmast. Herr Konsul Derulle tritt auf die Schwelle heraus, um zu kontrollieren, ob alles all right ist. Von ihm höre ich, daß der Jahrestag des Waffenstillstands, der 11. November, angebrochen ist.
Ich schicke einen fragenden Blick zum Sternenbanner hinauf, das in dem sonnig frostigen Morgen längsam im Nordost schwingt.
„Tag der Toten,“ sagt der Herr Konsul. „In Amerika ist der Jahrestag des Waffenstillstands den Gefallenen geweiht.“
Wir feiern den Tag hier als Freudentag, als Tag der Befreiung von fünfthalbjähriger Bedrückung, von quälend banger Sorge um die nächste Zukunft. Wir können uns nur schwer in den Gedanken finden, daß dieser Freudentag für andere ein Tag der Trauer sein soll.
Und doch haben die Amerikaner wieder einmal recht.
Ihnen war der 11. November 1918 kein Tag der Befreiung. Sie brauchten von niemand befreit zu werden. Ihnen bedeutete der Waffenstillstand höchstens, daß nun der hochabenteuerliche Ausflug über See, in die alte Country, zu Ende war. Den Sammies viel zu früh, wie sie sagten. Sie hätten sich noch ganz gern - sagten sie - ein paar Monate weiter mit den Leuten des Kaisers herumgebalgt. Funny! Sie schossen ja sogar noch über das Waffenstillstandssignal hinaus mit ihren funkelnagelneuen Kanonen. Wenn man eine neue Kanone bekommen hat, ist es ja auch zu dumm, daß man auf einmal nicht mehr damit soll schießen dürfen.
Für die wäre es also auch kein besonderer Freudentag gewesen. Eine Nation, die das Raufen auf Regeln gebracht hat und als Nationalsport betreibt, der das ganze Leben ein Kampf ist, wird sich doch nicht der Blamage aussetzen, daß sie es als ein freudiges Ereignis feiert, wenn sie nicht mehr fighten darf!
Solange die Sammies vorwärts stürmten, hatten sie keine Zeit, an die Toten hinter sich zu denken. Jetzt auf einmal liegen sie still. Hahn in Ruh! Und da merken sie, daß rechts der Jimmy und links der Jack fehlen. Jetzt finden die Lebenden, daß sie Zeit haben, für die Toten zu sorgen. Sie stellen ihre Angelegenheiten zurück und lassen den Toten den Vortritt. Sie graben alle aus, die in den Argonnen und überall ein hurtiges Kriegsgrab gefunden haben, und bereiten ihnen in Romagne eine Riesenruhestätte. Sie schenken ihnen den Tag zu eigen, der sonst überall den Lebenden und ihrer Freude gehört. Darum ist der Armistice-Day in Amerika ein Tag der Toten.
Mir will scheinen, die Yankees sind manchmal mehr Gefühlsmenschen, als sie es Wort haben wollen.