Original

17. November 1921

Die Welt kann noch lange dauern, ehe wir alle Steigerungsmöglichkeiten für unsere Genüsse ausprobiert haben.

Ich nehme z. B. die Freude, die Sie an der Geselligkeit haben. Sie sind in einem Salon, auf einem Ball, in irgend einer Gesellschaft, wo sich Hunderte von Menschen durcheinander bewogen. Der große Maler Michael v. Munkacsy soll z. B. in seinem Hotel der Avenue de Villiers in Paris Soireen gegeben haben, zu denen an die 800 Gäste geladen waren. Gesetzt den Fall, Sie wären auf einer solchen Soiree dabei gewesen, hätten sich mit andern Gästen unterhalten, hätten den einen sehr geistreich, den andern sehr dumm gefunden, aber nicht gewußt, wie sie hießen. Nun, so hätten. Sie sich eben gesagt, der mit dem Vollbart war ein wirklich gescheidter Kerl, und der andere mit dem dicken roten Gesicht war ein Knste und Dummkopf. Aber Sie hätten dem Erlebnis weiter keinen Wert beigelegt. Hätten Sie aber gewußt, daß der Vollbart kein anderer war, als z. B. Tristan Bernard, so würden Sie sich heute noch über die Bekanntschaft freuen. Und hätte man Ihnen den Dummkopf als Herrn - - - - - - Doch wozu Namen nennen? Sie hätten aber wenigstens denken können: So? Der? So sieht er auch aus. Und hätten noch heute die Genugtuung, daß Sie einen allgemein als Kamel rubrizierten Kerl gleich beim ersten Mal als solchen agnosziert hatten.

Oder Sie erben von einem begüterten Onkel einen Weinkeller. Der Onkel wußte, wo seine Weine lagen, aber er hatte seine Flaschen nicht etikettiert. Und nun müssen Sie das alles anonym genießen. In einem Gefach liegt eine Sorte, bei der Sie und Ihre Freunde immer mit der Zunge schnalzen und gen Himmel blicken. Aber Sie wissen nicht, was es ist. Hätten Sie nicht einen viel größeren Spaß an dem Genuß, wenn Sie wüßten, daß Sie es beispielsweise mit 1915er Wehlener Feinter, Prüm Erben, oder mit 1908er Le Gallais Waltinger Kupp zu tun haben? Umgekehrt, wenn Sie an eine Flasche geraten, die nach Pomade oder Haaröl schmeckt, so möchten Sie doch auch wissen, welche WeinpantscherFirma von der Ober-, Mittel- oder Untermosel Ihrem Onkel selig dieses Goldtröpfchen oder Herzblut angeschmiert hat.

Ich bin sicher, Sie essen Ihren Wintervorrat an Äpfeln kunterbunt durcheinander, ohne Unterschied der Sorten. Sie wissen also nicht, welch ein ästhetisches Vergnügen darin liegt, seine Äpfel sorgfältig nach Sorten klassiert zu haben und jede davon zu einer bestimmten Zeit, wenn die Nachreife grade ihren Höhepunkt erreicht hat, in Angriff zu nehmen. Freilich müssen Sie da entweder Pomologie studieren, oder einen guten Freund haben, der Ihnen die Äpfelsammlung gleich mit den Aufschriften besorgt. Aber wenn Sie dann eine Reinette oder Goldparmäne, einen rotbackigen Eiser, einen Boïken, oder gar einen echten alten luxemburger Grauapfel unters Messer nehmen, dann denken Sie daran, wie Ihr Freund dies köstliche Obst ausgesucht und betreut hat von der Knospe bis zur Ernte, wie er jede einzelne Sorte in ihren Eigenheiten studiert hat, Sie lernen, Ihre Äpfel zu individualisieren, wie die Gäste in einer Gesellschaft, Sie werden über dem Äpfelessen zum Naturfreund. Und Sie haben nicht nur den leiblichen Genuß des Essens, Sie verbinden damit den Genuß an höheren und weiteren Interessen.

Sehen Sie, so soll der Mensch unablässig an seiner eigenen Veredlung tätig sein.

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  • Plauderei- reflection on order
KatalognummerBW-AK-009-2016