Original

22. November 1921

In einem alten Heft der „Atlantic Monthly“ las ich eben einen Aufsatz „Eindrücke aus dem fünften Kriegejahr“. Das Heft ist nämlich vom Dezember 1918. Darin fiel mir folgende Stelle auf:

„Sie sind wunderbar, diese jungen Männer, voll einer ernsten Begeisterung, die der einzige ritterliche Einschlag in diesem rohen Krieg ist. Aber auch der wird verschwinden, wenn der Krieg länger dauert. Ein Jahr lang, vielleicht zwei, hält der nervenstärkende Einfluß des Kampfes vor. Dann kommen Enttäuschung, Zynismus, Verzweiflung an Gott und den Menschen.“

Als heute genau vor drei Jahren, Tag für Tag, Stunde für Stunde die amerikanischen Soldaten hier einzogen, war der Zustand der Enttäuschung, des Zynismus, der Verzweiflung an Gott und den Menschen bei ihnen noch nicht eingetreten. Sie hatten noch den „ritterlichen Einschlag“. Ihr lieben Kätty und Märry und Mimi und Maisy - ist es wahr oder nicht, daß Ihr in dieser Zeit des Jahres immer wieder dem Zauber Amerikas verfallt! Starke Eindrücke werden immer mit der Jahreszeit lebendig, in der sie entstanden sind. Und wie Ihr den Nachgeschmack der amerikanischen Küsse auf Euern Lippen spürt, so hören wir von früh bis spät das Lied in uns summen. das sie damals Nächte durch auf allen Klavieren Luxemburgs spielten: «It ’s a long long trail a-winding ...» Und das Lied duftet nach Schokalade und nach Camel-Zigaretten und nach Prince Albert-Pfeifentabak - «does not bite the tongue» - und nach Hapanna-Zigarren, und schmeckt nach Champagner aller Marken, die noch im Lande lagerten oder eiligst mit den siegreichen Truppen hereingekommen waren. Die olivenfarbene Mannheit Amerikas war in unsere Bevölkerung hereingeströmt, wie ein geschwollener Strom in einen See, und es dauerte gar nicht lang, bis sich Strom und See durchmischten und durchdrangen.

Ich sehe deutlich, als wäre es heute morgen gewesen, den ersten Amerikaner, der mir an jenem Tag, 22. November 1918, zu Gesicht kam. Er saß auf einem quicken kleinen Reitpferd, das unsere Straße herauf tänzelte, und er schickte seine Blicke nach den Fenstern in den obern Stockwerken, wo er die Schlaszimmer vermutete, und wo vielleicht eine weiße Hand mit einem weißen Arm dahinter eine Gardine beiseite schieben würde. An der Merker Straße hielt das erste Lastauto, und an den Beinen seiner Insassen sahen wir die ersten Gummistiefel, mit denen sich später die ganze männliche Jugend des Landes ausgerüstet hat. Ein Bekannter kam aufgeregt zu mir und sagte, da stehe ein junger Mann, der meinen Familiennamen führe und dessen Eltern in den 50er Jahren von hier nach Amerika ausgewandert seien, sicher ein Vetter. Abends hatte jede luxemburger Familie mindestens einen Bankdirektor oder Plantagenbesitzer zu Gast.

Das waren die ersten.

Die letzten - jedenfalls einige der letzten sah ich vor einigen Tagen. Ihre Namen waren mir morgens in der Rubrik Zivilstand - Heiraten - begegnet. Sie saßen auf dem Bankstein eines Schaufensters und ihre jungen Frauen standen vor ihnen, weil sie das Sitzen auf Fensterbänken für unschicklich hielten. Von oben nach unten und von unten nach oben gingen verliebte Blicke.

„Sie sind wunderbar, diese jungen Männer, voll einer ernsten Begeisterung, die der einzige ritterliche Einschlag in diesem rohen Krieg ist. Aber auch der wird verschwinden, wenn der Krieg noch länger dauert. Ein Jahr lang, vielleicht zwei, hält der nervenstärkende Einfluß des Kampfes vor. Dann kommen Enttäuschung, Zynismus, Verzweiflung an Gott und den Menschen.“

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KatalognummerBW-AK-009-2020