Original

27. November 1921

Es ist in diesen Tagen mächtig viel vom Meselwein geredet worden, zumal vom 1921er. Also darf auch hier ein Wörtlein weiter darüber fallen.

Jeder Tag bestärkt mich mehr und mehr in der Überzeugung, daß die Welt der Weinkensumenten den 21er falsch auffaßt und die Absichten, die der Schöpfer damit verfolgt, ganz und gar mißversteht. Man tut im allgemeinen so, als habe man es mit dem Phänomen Wein zu tun, wie alle Jahre.

Dem ist nicht so. Wir stehen einer Erscheinung gegenüber, die ein Ding ganz für sich ist.

Gestern begegnete mir ein zehnjähriger Junge aus meinem Mesel-Heimatort. Ich srug ihn, wie man das so um diese Zeit immer tut, was denn der Grächen macht.

„Se fäerten en!“ sagte er mit einem scheuen Ausdruck im Blick.

Der Neue weilt unter ihnen wie ein Fremdes, Unheimliches, an das sie sich einmal herangewagt hatten, mit dem Ergebnis, daß sie unter den Tisch gefallen waren. Seither haben sie Angst vor ihm. Von Zeit zu Zeit wagt es wieder einer, und es nimmt ein Ende mit Schrecken.

Es ist kein Wein, es ist ein Dämon, eine Gottheit.

Trinken ist ein Wort, das zu dieser Erscheinung nicht in Beziehung gebracht werden sollte. Der 1921er läßt sich nicht trinken. Wir müssen, um auszudrücken, daß wir ihn genießen, ein neues Wort finden, ein Wort, in dem die Tätigkeit des Trinkens vergeistigt und geadelt erscheint.

Vor allen Dingen aber sollte es gesetzlich streng untersagt werden, den 1921er vor seiner vollständigen Flaschenreife überhaupt zu konsumieren. Ihn als Federweißen trinken ist direkt Kindsmord, ein Verbrechen, das umso scheußlicher ist, als das Kind ein Genie ist, wie es die Welt noch nicht gesehen hat.

Nach der Sintflut schenkte der Herr seinem Knecht Noah den Weinstock, da der arme Kerl doch kein Wasser mehr trinken konnte. „Dieweil darin ersäufet sind - All sündig Vieh und Menschenkind - Drum möcht ich armer alter Mann - Ein anderweit Getränke han.“

Seit jenem Gnadengeschenk sind Jahrtausende und Jahrtausende vergangen.

Da kam die neue Sintflut des Weltkrieges, und als sie vorbei war, und die Wasser sich verzogen hatten, da machte der Herr der Menschheit aus domselben Gefach ein neues Gnadengeschenk: Das ist der 1921er.

Aber denkt um Gottes willen nicht, es sei ein Wein, den Ihr trinken könnt, wie alle andern Jahr- gange. So hat der Herr es nicht gemeint. Er hat uns damit kein Genußmittel bescheven wollen, sondern einmal im Lauf der Schöpfung ein wirkliches Elixier, das nie seinesgleichen hatte, noch hat, noch haben wird. Es ist darin soviel Sonne, soviel von der geheimen Kraft, die im Mutterschoß der Erde wirkt, und die sie heute Radioaktivität nennen, soviel Wunderbares und Unerforschtes, was keine Chomie nachzuschaffen vermag, daß dieser Jahrgang 1921 ganz aus der Reihe fällt.

In der Weinchronik wird es heißen müssen: Alle Jahre ist Wein gewechsen, nur von 1920 bis 1922 war ein Sprung, da kam etwas in die Welt, was man nicht kannte, ein Lobenssaft, eine Zauberarznei. Erst glaubten die Menschen, dies sei ein Wein, den man trinken könne, wie alle andern. Bald sahen sie ihren Irrtum ein, und daß der Hömmel hiermit ganz was Besonderes vorhatte. Sie schlossen die kostbare Flüssigkeit fort, wie einen Schatz. Ein Gesetz wurde gemacht, wonach auf Landeskosten jedem Bürger ein eiserner Bestand an Flaschen zugewendet wurde, damit keiner wäre, der in höchster Not nicht zu diesem Zaubertropfen seine Zuflucht nahmen könnte. Auf ihrer Vergeudung standen die höchsten Strafen. Denn durch geheimnisvolle Eingebung war unter den Völkern der Glaube entstanden, solange es noch eine Flasche 1921er gebe, sei jeder Krieg ausgeschlossen.

So also verhält es sich mit dem 1921er.

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