Original

30. November 1921

Maria Chapdelaine ist ein Roman aus dem französischen Kanada, von Louis Hémon. Dieser Roman gehört zu den Büchern, die man gelesen haben muß. Nicht, weil in einem Anlauf 120 000 Exemplare davon verkauft wurden, sondern weil es ein schönes, erdenschweres, aufrichtiges Buch ist. Nicht komponiert, zum mindesten nicht auf den Effekt hin komponiert, aber geschrieben! Und legt man es aus der Hand, so kommt es über einen, wie da großzügige Mutterkunst am Werk ist, wie der Schöpfer hinter das Geschaffene zurücktrirt, es aus sich wachsen läßt, langsam, wuchtig, breitschultrig und schlicht, aber mit verborgenen Tiefen, in denen unüberwindliche Kräfte beschlossen liegen.

Dort, wo die unterkanadischen Wälder an das urbar gemachte Land stoßen, ringt der Bauer Chapdelaine mit der Erde, «Faire de la terre» heißt die Tätigkeit, die darin besteht, daß sich die Männer auf den Wald stürzen, in gewaltigem Ringen Stück um Stück ausreden und dem Pslug untertänig machen. Es ist alte französische Bauernrasse, die ihre ganze ruhige Zähigkeit mitsamt der Sprache und dem schlichten Gottesglauben unter englischer Herrschaft bewahrt hat. Maria Chapdelaine, die älteste Tochter, erlebt mit Eisgang und Frühling das Erwachen ihrer Weiblichkeit und „verlobt“ sich mit François Paradis, dem Sohn eines benachbarten Farmers, der das Gut seines Vaters nach dessen Tod verkauft hat und aus Ungebundenheit Trapper geworden ist. Er führt im Frühjahr die Belgier, die von den Eingeborenen die Peltze kaufen und arbeitet im Winter „dahinten“ als Foreman in einer Fabrik. Zur Zeit der Heidelbeerreife kommt er zu den Chapdelaines auf Besuch und beim Heidelbeerpflücken sagt er dem jungen Mädchen, daß er ein ordentlicher Kerl sein und Geld verdienen will, 400 Piaster, und daß er dann im nächsten Frühjahr wieder einmal auf Besuch kommen wird. Sie versteht, wie es gemeint ist, und sagt ja. Und keine Welt brächte sie nach dieser Verlobung auseinander. Nur der Tod. Denn nach Weihnachten erzählt einer auf der Farm, daß Francois Paradis über die Feiertage in seiner Fabrik Urlaub genommen hatte, um einen Abstecher zu den Chapdelaines zu machen, daß er sich unterwegs in den Wäldern verirrt hat und elend umgekommen sein muß. Daran wird Maria Chapdelaine zur stillen, großen Heldin, ohne Pathos und Geberden, aber tief und stark, wie ihre Rasse und wie die Natur, mit der sie verwachsen ist.

Das Buch hat noch einen andern Reiz voller Eigenart. Das ist seine Sprache. Es ist die Sprache der französischen Kanadier, die sich fern vom Mutterland herausgebildet hat. Manches daran hat sich von der Muttersprache fortentwickelt, weist englischen Einschlag auf und ist dabei von einer köstlichen Ursprünglichkeit geblieben. So z. B. wenn diese Hinterwätdler die Eifenbahn «les chars» nennen. Anderes ist noch so, wie es die ersten Anstedber von daheim mitgebracht hatten, während es im heimischen Französisch an Laut oder Bedeutung allmählich sich gewandelt haben mag. Und nun die alten Wörter in ihrer ursprünglichen Form und Bedeutung im Mund der Lebenden hören, das wirkt, als ob Tote auferstünden und in der Sprache der vergangenen Jahrhunderte zu uns redeten. Wer für die Seele einer Sprache Sinn hat, wird das Buch mit einer köstlichen Spannung zu Ende lesen. Und wer für die Seelen der Menschen Sinn hat, wird es zu dem Besten zählen, was über schlichte, starke Naturen je geschrieben wurde.

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KatalognummerBW-AK-009-2027