Original

8. Dezember 1921

Sie gehen vielleicht nicht gerne ins Theater? Weil Sie überhaupt abends lieber zuhaus bleiben. Weil es im Theater bald zu warm und bald zu kalt ist. Weil Sie nie den Platz bekommen, den Sie gerne hätten. Weil Sie Toilette machen müssen. Weil immer dieselben alten Stücke gespielt werden. Weil Ihnen die Menschen mit ihrem Getue und Geseire schon lang zum Hals rauskommen. Vielleicht auch weil Sie die zehn Franken nicht gerne dranwagen.

Run gut, was sagen Sie zu einem Theater, bei dem alle diese Übelstände wegfallen? Sie können ruhig zuhaus bleiben, brauchen nicht Toilette zu machen, können die Temperatur nach Ihrem Belieben regeln, brauchen Sich über keine Zuspätkommer zu ärgern, haben immer den besten Platz, sehen immer neue Stücke, und dabei keine Menschen, wohl aber ergötzliche Parodien auf allerhand Menschliches.

Ich meine ein Vogeltheater.

Sie können es sich selbst ohne Mühe und Kosten herstellen.

Die Bühne besteht aus einem zirka dreißig Zentimeter langen Stäbchen, das Sie draußen an Ihrem Fensterrahmen in Augenhöhe wagerecht befestigen.

An das Stäbchen hängen Sie; einen eigroßen Holznapf, den Sie mit Sonnblumenkernen füllen. Daneben ein großmaschiges Säckchen mit Nußkernen. Daneben eine Speckschwarte von zirka fünf Zentimeier im Geviert.

Das Fenster verhängen Sie mit einem dünnen durchsichtigen Tüll. Dann rücken Sie Sich einen Stuhl zurecht, und die Vorstellung kann beginnen.

Die Theatertruppe besteht nur aus Meisen. Selten mischt sich ein anderer Vogel hinein. Es sind Haubenmeisen, Tannenmeisen, Blaumeisen, Kohlmeisen. Spechtmeisen - die ganze Meisensippe. Und sie beißen alle andern hinaus. Der frechste Spatz vermag nicht vor ihnen zu bestehen. Die Amsel, die zweimal so groß ist, wie die größte Meise, pickt demütig die Kerne auf, die das Meisenvolk auf die Erde faklen läßt.

Die Vorstellung beginnt. Sie können ihr aus allernächster Nähe folgen. Hinter dem Tüllvorhang sind Sie den Schauspielern unsichtbar, wie weiland König Ludwig von Bayern in seiner Loge den Künstlern, die für ihn ganz allein Wagner spielten. Das erste Meischen fliegt an, flurrt vielleicht mißtrauisch eine Sekunde über der „Bühne“, bis der Hunger über die Vorsicht siegt, und läßt sich auf der Vogelstange nieder. Im Nu hat es das Menü eingesehen und seinen Plan entworfen. Erst holt es sich aus dem Napf einen Sonnblumenkern, der unter die Kralle genommen und tock tock tock aufgehackt wird. Dann hängt es sich an das Säckchen mit den Nußkernen und klaubt sich mit dem Schnabel einen heraus. Zuletzt sieht man es baumelnd an der Speckschwarte festgekrallt, in die es hineinpickt.

Andere streichen an, suchen sich in der Nähe einen Stand, messen einander feindselig mit den Blicken. Eine versucht, die Stange zu gewinnen, eine andere dringt aggressin auf sie ein, schlägt sie aus dem Feld, bis die erste Sukkurs holt, ihr Männchen wahrscheinlich, und dann zu zweit den Futterplatz erobert. So geht es unaufhaktsam ab und zu, der Struggle for Life nimmt die drolligsten Formen an. Allmählich lernt man die einzelnen Kräfte der Truppe in ihren Eigenarten kennen, wodurch sich der Spaß an den Vorstellungen noch erhöht.

Nur von Applaus wollen diese Mimen nichts missen. Das kleinste Geräusch jagt sie in die Flucht. Aber ihr Tisch muß regelmäßig gedeckt sein, sonst nehmen sie es übel und manifestieren feindlich.

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KatalognummerBW-AK-009-2034