Original

15. Dezember 1921

„Fragen Sie doch einmal Herrn Fernand Mertens, wann er wieder mit seinen beliebten Sonntagsnachmittagskonzerten beginnt.“

So oder ähnlich lauten Briefe, die mir in Zwischenräumen von zwei bis drei Tagen seit längerer Zeit zugehen.

Mit Recht, muß ich sagen. Man fragt sich vergebens, warum diese Konzerte eines Sonntags aufgehört, zumal aber, warum sie nicht wieder angefangen haben.

Sie traten vor zirka dreißig Jahren in die Erscheinung. Ungefähr so lang wird es her sein. Der alte Cercle stand noch, im großen Saal oben waren die Wände mit Ölfarbe hell wassergrün gestrichen, und in der grünen Einöde stand alle 35 Zentimeter eine Lilie. Oben an der Kopfwand, die dem Orchester gegenüber lag, hatte Peter Blanc, der grade von hohen Malschulen zurück war, sich in einem großen Karnevalsgemälde ausgetobt. In diesem Saal, wo die Ball-, Verlobungs- und Haarbeutelerinnerungen langer Geschlechterreihen umgingen, fanden die ersten dieser Sonntagsnachmittagskonzerte unter Kapellmeister Kahnt statt.

Sie waren eine Erlösung.

Dante hatte seinerzeit den Luxemburger Sonntagnachmittag nicht gekannt, sonst hätte er ihn in seinem Inferno verewigt.

An diesem Sonntag Nachmittag sind viele der stärksten Naturen zugrunde gegangen. Ihre Signatur war: Skat, Alkohol, Langeweile. Das Wandern war dazumal noch etwas Abenteuerliches. Ging man im kurzen Wichs an einen Mittagszug, um sich an die Mosel, ins Ösling oder ins Müllertal zu retten, so blieben die Leute, die vom Paradeplatz kamen, mit offenen Mündern stehen, schlugen die Hände überm Kopf zusammen und riefen: Er geht nach Tirol! Zwei mutige junge Leute hatten einen Wanderverein gegründet, der eine Schwalbe und einen Regenschirm im Wappen führte. Die Uniform bestand aus weißen Leinengamaschen und einem ausrangierten Militärtornister. Sie sind deshalb bis auf den heutigen Tag berühmt geblieben. Sie hatten den Mut gehabt, die Langeweile des Sonntagnachmittags zu durchbrechen.

Da hinein klangen dann auf einmal die Saalkonzerte des Militärorchesters. Eine halbe Stunde vor Beginn war schon kein Platz mehr zu haben. Geraucht durfte nicht werden, aber Bier, Wein, Imbiß gab es Herz was begehrst du. Frauen und Kinder freuten sich die ganze Woche auf die paar Stunden, in denen die Genüsse so mollig ineinander flossen.

Auf die Ära Kahnt folgte die Ära Mertens, und die Konzerte siedelten nach dem Kölnischen Hof über. Wie und warum sind sie auf einmal verstummt? Heute bringt im selben Saal Fräulein Parel ihren Schülerinnen und Schülern Anmut bei und ich möchte sie beileibe nicht vertreiben. Aber die Sonntagnachmittags-Militärkonzerte müssen unbedingt wieder her. Wo ist ein Saal frei? Es soll nicht sein, wie bei den Konzerten des Konservatoriums, die den Luxemburgern als eine Art Hämatogen gegen musikalische Blutarmut eingeflößt werden. Es sollen volkstümliche Konzerte sein, die zu den andern sich verhalten, wie ein belegtes Brötchen zu einem Löffel Arznei. Das Publikum soll darin, wie vor einem Menschenalter bei Papa Bilse in Berlin, das Angenehme der Musik mit dem Nützlichen eines Vesperbretes und Vespertrunkes verbinden dürfen. Das hilft auch dem Musikleben auf die Beine, von unten herauf. Hämatogen macht Blut, und ein Schinkenbrot auch.

Also Fernand Mertens, wann fangen wir wieder an?

TAGS
  • Musik
KatalognummerBW-AK-009-2040