Original

16. Dezember 1921

Wir gehen achtlos an den Wahrheiten und Lehren des Lebens vorbei. Nur ab und zu illustriert es uns eine davon so greifbar, daß sie uns wie in einem plötzlichen Schlaglicht offenbar wird und sich unauslöschlich einprägt.

Wir wissen, daß die Geschlechterreihen sich in beständigem Auf- und Abstieg bewegen. Das Schicksal der Familien verläuft nicht in der Ebene, es trägt sie hinauf und hinab je nach ihrer Beschwertheit. Und wenn sich eine durch Jahrhunderte einigermaßen auf dem gleichen Riveau hält, so wird das als ein seltenes Glück, wohl auch als eine besondere Treue solcher Menschen gegen sich selbst und ihr Blut gepriesen. Seit die Höhenunterschiede in der europäischen Menschheit eingeebnet sind, seit Leben allgemein mit Genießen gleichgesetzt wird, ist diese adlige Treue ausgestorben und Auf- und Abstieg folgen sich in immer kürzeren Zwischenräumen. Nur machen wir es uns nicht so klar, wie wir es eigentlich müßten, um den Sinn des Lebens zu erfassen.

Einmal sah ich zu dieser Wahrheit ein Beispiel, das mich wie mit unmittelbarem Hauch anrührte, als ob dicht vor mir zwei Schicksalsschalen aneinander vorbei schwebten, eine hinauf, die andere herunter.

Zwei junge Männer saßen an einem Caféhaustisch. Es war zu später Stunde, wo die Hemmmungen der Klugheit, Vorsicht, Höflichkeit und Rücksicht umzusinken beginnen und es einer Augenblickswallung des Blutes bedarf, damit man sich die bittersten und schärfsten Wahrheiten sagt.

Der eine, der Aufsteigende, war der naturhaft Glückliche, Insichruhende, dessen Eigenschwere den Schwung in die Weite und nach oben hat. Ein Talent und ein Charakter in einem kerngesunden Muskelund Nervengefäß. Mit dem Talent allein ist heute an Stellen, wo es auf Persönlichkeitswirkung ankommt, wo Massen zu bewegen sind, wenig getan. Dazu gehören Charakter und Nerven. Und ein tief moralischer Untergrund. Dafür haben die Massen eine unglaublich feine Witterung. So war dieser Prachtkerl. Von göttlicher Einfachheit: Ein Punkt, Erkennen. Ein Strich, Wollen! Ein Zentrum, an dem Tausende hängen, eine Güte, eine Zuversicht, eine Klarheit und Heiterkeit, die waren, wie die Sonne, wie der Himmel, wie die Bäume und Wièsen und wie die fruchtbaren Äcker, die ihre Früchte dem Sommer entgegen tragen.

Wie dieser ein Anfang, so war der andere ein Ende. Ein Rasse-Ausläufer. Ein Faß, das leer läuft. weil seine Dauben am Faulen sind. In ihm traumredete noch manchmal mit schweren Zungen die Begabung seiner Vorfahren. Aber seine Rede war Schall und seine Gedanken waren Rauch. Rauch von erloschenen Feuern. Ein Organismus, aus dem das zusammenhaltende Mittelstück, der moralische Instinkt herausgefallen, die Schwungkraft, die dem Handeln seine Richtung nach oben gibt, abgestorben war.

Sie gerieten ins Feuer. Einen Augenblick lang glaubte der Sinkende von der Höhe seiner Überlieserungen dem andern auf den Kopf spucken zu können. Und dann muß er plötzlich die Vision gehabt haben, die ich in dem Moment auch hatte: Die Viston der beiden Schicksalsschalen, die sich im Hinauf- und Herabschweben begegnen. Er hatte deutlich das Gefühl des Sinkens, und es drängte plötzlich aus ihm heraus von demokratischen Schlagworten und von Phrasen über die Götterdämmerung der Erdgewaltigen.

Der andere lachte gutmütig und sagte: „Mein lieber Freund, das alles hat Sinn für uns, die wir von unten kommen, aber nicht für Sie, der von oben herunter fällt!“

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