Die Vorstellung, die am Montag abend die Gesellschaft „Balagantchik“ von Moskau mit russischen Liedern und Tänzen in unserm Stadttheater gibt, ist für uns ein Ereignis. Nicht nur künstlerisch, sondern schlechthin.
Was wissen wir von Rußland? Kaum mehr, als von China. Eher weniger. Es war und ist uns immer Halbasten. Wir verstehen das Land nicht und die Leute nicht. Westeuropäischer Kulturwillen und astatisch primitive, hemmungslose Leidenschaftlichkeit fließen in einander. Mystizismus und Brutalität, Schwärmerei und Pogrome, stumpfsinnige Erdgebundenheit der Mujiks und bei den Intellktuellen die Gier nach Gedankenzerreibung bis zum Nichts, zum Nihilismus. Champagner und Wutky, Weizenparadies und Hungersnöte, tolstoïscher Entsagungsraptus und großfürstliche Schlemmerei - das Land war so riesig, daß sich die Extreme im weitesten Ausmaß austoben konnten. Uns waren solche Höhen und Tiefen unheimlich, unfaßbar. Nur wenn sie in schöner Gebundenheit, in höchsten Kunstäußerungen zu uns sprachen, waren wir überwältigt. Russischer Gesang und russischer Tanz brachten uns die leidenschaftliche Tiefe, die Austobungsgier, das Bedürfnis nach Allumarmung, aber auch nach der süßen Sklaverei der schönen Rhythmen und Linien nahe und wir fühlten durch das Eis die Nähe des Bulkans.
Jedesmal, wenn schon vor dem Krieg russische Tänzer nach westeuropäischen Kunststätten kamen, schwangen die Saiten, die sie anschlugen, lange lange nach und jeder empfand die Neuheit und Größe, ja die Notwendigkeit solcher Schönheitsausstrahlung. Bis zu uns war davon nie ein Widerschein gedrungen.
Auch diesmal verdanken wir das Glück dieser Aufführung nur der Freundschaft, die Lugné-Poë, den lautersten Theatermann aller Zeiten und begeisterten Kunstskeptifer, mit unserer Bühne und einzelnen Theaterenthusiasten von hier seit langen Jahren verbindet.
Sobald die Truppe unter dem Patronat des Théâtre de l’Oeuvre auftritt, ist es selbstverständlich, daß sie erstens echt und zweitens erstklassig ist. Lugné-Poë ist seit Jahrzehnten der große Vermittler zwischen der gefährlichen Sphynx, die das Pariser Theaterpublikum ist, und allem, was im Ausland auf Originalität und Klasse Anspruch machen konnte. Es unterliegt demnach keinem Zweifel, daß wir es hier mit einer Darbietung zu tun haben. wegen deren Versäumung Sie Sich die Haare ausraufen würden.
Diese Zeilen haben lediglich den Zweck, zu verhindern, daß hinterher der eine oder andere sagen könnte, er sei nicht hinreichend auf den Abend aufmerksam gemacht worden.
Zum Schluß sei darauf hingewiesen, daß für diesen Abend die Abonnements aufgehoben sind.