Sie ist die jüngste von zwei Schwestern. Sie lebt seit zirka drei Monaten bei uns im Haus und jeder hatte sie gern. An Weihnachten wollen wir sie aufessen.
Nein, keine Gans, bitte. Eine Birne. Ein Phänomen von Birne. Die Schwester wiegt anderthalb, sie selbst stark fünfviertel Pfund. Es waren Zwillinge, die einzigen Töchter des Spalierbaums, der an der Südmauer des Hauses wächst. Seine sämtlichen andern Kinder hatte er während der Blüte in den Frühjahrsfrösten verloren. Sein Besitzer schenkte mir im Herbst den jüngsten der beiden Zwillinge als Kuriosum.
Diese Birne ist so groß wie der Kopf eines Neugeborenen. Ich legte sie zuhaus im Eßzimmer auf der Anrichte auf eine blaue, zwiebelgemusterte Meißener Schale, und sie gehörte bald sozusagen zur Ausstattung. Sie wirkte pompös, sie möblierte eine ganze Ecke. Sie war ein Stilleben für sich. Und ein Gesprächsthema. Erstens hielt sie jeder auf den ersten Anblick für einen Apfel. Denn während ihrer Zwillingszeit hatte sie, um Verwechslungen vorzubeugen, darnach getrachtet, mehr in die Runde, als in die Länge zu wachsen, und sie hatte es tatsächlich zu der kugelrunden Apfelform gebracht. Sie war wie ein Birnenmädchen, das sich als Apfeljunge verkleidet hatte. Und dann behauptete jeder, sie sei aus Wachs. Höchste Anerkennung für die Natur, nicht wahr, wenn einer sagt, sie habe die Kunst täuschend nachgeahmt.
Da lag also unsere Birne, die Birne, und gehörte zum Ganzen. Es wurde Oktober, allüberall in den Obstkammern gilbten die Äpfel und Birnen. Unsere blieb trotzig grasgrün. Grün ist die Gesundheitsfarbe der Birne. Solang sie grün ist, kann sie sich zur Wehr setzen. Sie wehrt sich gegen die Zähne und Zungen der Menschen mit dem herben Trotz ihrer Vollkraft, wie gesunde Lungen sich gegen den Bazill wehren.
An Allerheiligen war unsere Birne noch immer grün, bis auf die rote Sonnenbacke auf der einen Seite. Aber das Grün war nicht mehr so aggressiv, wie vorher, es sagte nicht mehr: Komm mal einer her! Es sagte noch: Laßt mir meine Ruh!
Es wurde Dezember. Und an St. Niklaus, wo alle braven Birnen edelreif sind, kam in das Grün unserer Solobirne mählich die Nachgiebigkeit des alten Kämpen, der Wasser in seinen Wein tut und mit sich reden läßt. Es war, als schmölze aus dem Grün mählich das Himmelblau des Frühlings und Sommers heraus und als bliebe nur das Gelb der süßen, gewährenden Reife zurück.
Ist es nicht rührend von der Mutter Natur, daß sie ihre Gaben sogar durch die Farben uns mundgerecht zu machen sucht! Grün ist uns die Farbe des Giftes, der Ohnmacht, der kühlen Leblosigkeit. Und um zugleich mit dem Gaumen unser Auge zu erfreuen, glüht die Natur Äpfel und Birnen, wenn sie am besten und reifsten sind, mit den Farben an, die für uns Menschen die Farben des Lebens, der Wärme sind, einem leuchtenden Rot und einem liebkosenden Orange.
Unsere Birne hatte zuletzt nur noch am Stiel eine kleine Falte, in der das Grün standhielt. Wie die Versilberung in den Vertiefungen eines alten Griffes.
Jetzt ist es auch da verschwunden. Und auf der Schattenseite, da wo es aussah, als sei die Frucht am härtesten und widerstandsfähigsten, da legt sich jetzt die Haut in gütige, großmütterliche Fältchen. Aber auf der Sonnseite glänzt die blutrocke Backe noch straff und unangekränkelt.
Ich nahm die Birne in die Hand und sog den feinen Duft ein, der sie einhüllte. Und es war, als sagte sie mit leisem Stimmchen: Jetzt ist es genug, jetzt macht ein Ende, daß ich in Schönheit sterbe. Sonst werde ich morsch und faul, und Ihr müßt mich in die Gosse werfen!
Seht Ihr, man kann manchmal sogar von Birnen lernen!