Original

25. Dezember 1921

Wahr und wahrhaftig hatte ich diesen Weihnachtstraum:

Die verschneiten Höhen der unendlich weiten Landschaft herunter kam das Christkindchen auf mich zu. Es trug eine große rote Nelke in beiden Händen, wie eine Monstranz. Die winterliche Welt, weiß und bläulich und kalt, sah auf einmal rosig aus, als strahlte sie von innen heraus, als sei sie ganz aus Milchglas, unter dem Vulkane leise schwelten.

Das Christkindchen kam immer näher, es setzte die Füßchen so zierlich, wie eine schöne Frau, und lachte mich an mit allen Zähnen.

„Was soll die Nelke in Deinen Händen?“ frug ich.

„Sie bedeutet Liebe, oder sie bedeutet Haß, wie Ihr wollt. Beide sind rot.“

„Du sollst uns die Liebe bringen und nicht den Haß,“ sagte ich. „Haß haben wir schon von selbst übergenug.“

„Komm!“ sagte das Christkindchen.

Da mußte ich mit ihm über die Welt schweben. Es hatte mich mit der Hand gefaßt und von Zeit zu Zeit fühlte ich den weichen Druck dieser Hand und es sagte: „Wir wollen ein Weilchen halten.“

Das war, wenn wir über den alten Schützengräben schwebten, die quer durch Europa gehen, von der belgischen Küste bis zu den Alpen, und die sich mit faul riechendem, grünem Wasser gefüllt haben; oder über den zerschossenen Dörfern und Städten; oder über Petrograd und Moskau und Sarskoje Selo und andern Stätten des russischen Grauens, wo die Klagen von Hunderttausenden gräßlich Gemordeter noch immer unter dem Himmel irrten, wie der Wind nachts um die Häuser winselt; oder wo die Leichen der elend Verhungerten in den Gossen lagen; oder über glitzernden Städten, wo wir durch die Dächer in große Häuser hineinsahen: Männer saßen um grüne Tische und berieten, wie sie es machen sollten, daß wieder Friede in die Welt käme, oder erregte Massen starrten mit Fieberaugen nach Rednern, die ihr Blut aufpeitschten.

Das Christkindchen hatte mich immer noch mit seiner weichen Hand gefaßt, denn es war größer, als alle Christkindchen, die ich je gesehen hatte.

„Wir fliegen wieder nachhaus,“ sagte es. „Die Menschen haben mir in den letzten Jahren das Leben sauer gemacht. Ich bin vor der Zeit alt geworden. Ich bin kein Kind mehr. Ich lasse nicht mehr mit mir spassen. Sie sollen sagen, wie sie es haben wollen: Liebe oder Haß!“

Die rote Nelke, die es noch immer in seiner Linken hielt, fing an zu glühen und zu knistern. Und auf dem bläulich weißen Schneeberg standen zwei Weihnachtsbäume. An dem einen hing der Schmuck, den ich seit langen Jahren kenne, der nach Neujahr immer eingepackt und im nächsten Jahr wieder hervorgeholt wird und mit dem die süßesten Erinnerungen verwachsen sind. An dem andern hingen zierliche Modelle von Kanonen und Unterseebooten, Gasmasken, fremdartige Apparate mit Gebrauchsanweisung: Man kann damit riesige Gaswolken auf 50, 100 Kilometer über einer Stadt konzentrieren und sie durch einen elektrischen Funken zur Explosion bringen, daß von der Stadt kein Stein auf dem andern bleibt.

„Ihr habt zu wählen!“ sagte das Christkindchen mit einem Sphinxlächeln um den Mund. Und es ging fort, die verschneiten Höhen hinauf, mit der roten Nelke in den Händen. Und es setzte seine Füßchen wieder zierlich den Berg hinauf, indes ein Sturmwind sich erhob und seine langen braunen Haare zerwühlte.

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