Mein Freund und Landsmann Prosper Müllendorff erscheint mir seit vorgestern in der Gestalt eines Mannes, der voller Entrüstung ein Kind mit dem Bade ausschüttet.
Sie haben in unserer Abendausgabe von Mittwoch gelesen, was er über Sprachverwilderung schreibt. Ich gebe ihm recht, aber nur mit gewissen Einschränkungen. Er findet an der heutigen Sprechund Schreibweise der Deutschen allerlei auszusetzen: Übertreibungen, unnötige Satzbelastung, unsachgemäße Wortbildungen und Modewörter, die einem zum Hals rauskommen.
Als Beispiel für eine landläufige Übertreibung nennt er „außerordentlich“. Alles sei heute außerordentlich groß oder außerordentlich klein, außerordentlich reich oder außerordentlich arm. Ich glaube in diesem Betracht eher an eine Tendenz zur Abschwellung. Früher gebrauchte man statt außerordentlich Wörter wie wahnsinnig, gräßlich, ekelhaft usw. Ekelhaft reich, wahnsinnig gescheit, gräßlich langweilig waren jedem Backfisch geläufig. Wenn man statt dessen heute nur noch außerordentlich sagt, so ist das ein Fortschritt, der sicher durch den knappen, sachlichen und so gewissenhaft wirken sollenden Stil der Generalstabsberichte eingeleitet wurde. Da war ja auch „bombensicher“ durch „einwandfrei festgestellt“ ersetzt.
Prosper Müllendorff findet ferner eine Aufplusterung darin, wenn ein Minister sagt, er suche den Frieden aufrecht zu erhalten, statt einfach zu erhalten. Ich habe ihn im Verdacht, daß ihm das Malerische in der Sprache Hekuba ist. Ein Friede, den ich erhalte, ist etwas Abstraktes, ein komplexer Zustand, der nichts Bildhaftes an sich hat. Ein Friede aber, den ich aufrecht zu erhalten bestrebt bin, ist eine Gestalt, die äußerst - ja sogar außerordentlich schwach auf den Beinen steht, die bald nach rechts, bald nach links, bald nach hinten und bald nach vorne umzukippen droht, die ich von allen Seiten stützen muß, wie eine Respektsperson, die zuviel 21er Neuen getrunken hat. Unter einem solchen Frieden kann sich das Volk doch etwas vorstellen!
Müllendorff stößt sich ferner an dem Wort „herabmindern“ und fragt, ob denn schon jemand etwas heraufgemindert habe. Da rühren wir an die Imponderabilien der Sprache. Ein berühmtes Lied beginnt mit den Worten: „Ich kam vom Berge hernieder.“ Obschon noch nie jemand vom Berge heraufgekommen ist, begnügt sich doch kein Deutscher mit dem einfachen „Vom Berge kommen“. Der Rhythmus, das notwendige Ausschwingen der Rede verlangt die selbstverständliche Ergänzung. Und so werden von Leuten, die Sprachgefühl haben, manche Sätze ausgezogen und aufgeblasen, werden sechs Wörter verbraucht, wo drei genügen würden - dem Rhythmus und der Anschaulichkeit zulieb. Erst wenn verständnislose Nachahmer es auch können wollen, wird daraus Verballhornung. Wenn ein Finanzminister sagt: Ich werde die Summe morgen zur Auszahlung bringen, ist es nicht dasselbe, wie wenn er sagt: Morgen wird die Summe ausgezahlt. „Eine Provinz mit Getreide beliefern“ weckt eine völlig andere Vorstellung, als „eine Provinz mit Getreide versorgen“ oder gar „einer Provinz Getreide liefern“. „Auftakt“ und „einsetzen“, die Müllendorff als leidige Modewörter verpönt, legen für die Mechanisterung unserer Zeit eine charakteristische Probe ab.
„Ein Verein singt ein Lied“ ist noch lange nicht dasselbe, wie „ein Lied wird vom Verein gesungen“. Hier hat das Passiv die anschauliche Bedeutung des Stillehaltenmüssens, und was das manchmal für so ein armes Lied bedeutet, weiß jeder Leser.