Original

31. Dezember 1921

Luxemburg tritt allmählich wieder in das Zeichen des Drecks.

Es hatte uns wirklich etwas gefehlt. Wir überquerten die Straßen, ohne bis an die Knöchel im Kot zu waten. Das mutete so fremdartig, so exotisch an. Aber wir hatten uns daran gewöhnt. Unser vaterstädtischer Dreck war zu Staub geworden. Der Dreck ist das Mittelding zwischen fest und flüssig, der Staub mimt den Übergang vom festen Körper zur Luft. Heute waten wir also wieder zwischen fest und flüssig. Wir erkennen unser gutes, altes, dreckiges Luxemburg wieder.

Sonst waren um diese Zeit die hohen Erntetage des Drecks. Männer kamen mit großen Scharrwerkzeugen und zogen ihn in breiten Schwaden seitwärts. Dort blieb er längs der Trottoirbordsteine liegen. Es war ein unsäglich weiches Empfinden, wenn Du abends im Dunkeln ahnungslos hineintratest. Allmählich verbreitete er sich dann wieder über die ganze Wölbung der Straße und wieder kamen die Männer und beseitigten ihn.

Die Fremden zerbrechen sich die Köpfe darüber, wie wir es fertig bringen, unsere Stadt stets im frischen Schmuck dieses Drecks zu erhalten. Sie wissen nicht, daß wir den Dreck mit allen Errungenschaften eines vorsintflutlichen Straßenbaues importieren, ihn vom flachen Land, wo er natürlich zuhaus ist, direkt bis in das Weichbild der Hauptstadt herein aus allen Himmelsrichtungen kanalisieren. Unser Dreck ist kein Produkt des binnenstädtischen Verkehrs, er ist der wackere Sohn der Mutter Erde, gemacht aus Ackerschollen und Landstraßenschlick, ganz wie der Dreck von Schlindermanderscheid und Freckeisen. Von den Höhen von Straßen und Dippach, aus den Tiefen von Beggen und Hesperingen leiten wir ihn bis dicht an unsere Schwellen. Andere Städte legen gepflasterte oder asphaltierte Straßen bis weit hinaus vor ihr Weichbild, gewissermaßen als Abkratzmatten, an denen sich der Verkehr von außen her den Dreck abstreichen kann, um mit sauberen Sohlen und Rädern das Stadtinnere zu betreten.

Anders wir. Wir führen die gewöhnliche Bauernchaussee mit ihrem Dreck, den die Räder zermalmen und die Hufe zerstampfen, bis in die Stadt herein. bis dicht an den Mittelpunkt der City. Die vornehmsten Straßenzüge, an denen die schönsten Villen stehen. haben einfachen Schottersteinbelag, der natürlich unter der mahlenden Last des gesteigerten Stadtverkehrs bald zu einem grauen Brei wird. Dieser Brei heftet sich an Sohlen und Räder und läßt sich weiter hinein tragen, über das Pflaster, das sonst leidlich sauber bliebe, und überzieht alle Straßen und Plätze mit der Dreckschicht, die uns berühmt gemacht hat.

Wir besitzen aber noch eine Spezialität, die zur selben Zeit, wie der luxemburger Dreck, in die Erscheinung tritt. Das sind die losen Trottoirplättchen. „Frech wie ein loses Trottoirplättchen“ ist eine Redensart, die den Nagel auf den Kopf trifft. Ich kam gestern grade recht, um in meinen Armen eine junge Dame aufzufangen, die auf ein solches loses Trottoirplättchen getreten war. Ich sollte diesem also eigentlich nicht gram sein. Aber es hätte auch eine alte Betschwester sein können. Und im Prinzip sind lose Trottoirplättchen, die wahllos und tückisch Damenstrümpfe und Männerbeinkleider bis an die Kniee hinauf anspritzen, zu verpönen.

Ich möchte wirklich noch hundert Jahre leben, nur um zu sehen, ob über hundert Jahre Luxemburg immer noch die Stadt des Drecks sein wird.

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