Original

5. Januar 1921

Seit dem Heldenstreich des Hauptmanns von Köpenick, der vorgestern in unserer Stadt das Zeitliche gesegnet hat, sind soviel Stürme über die Welt gebraust, daß das Andenken an jene Tragikomödie heute verblaßt ist.

Eine Tragikomödie war es leider, und bei näherem Hinsehen stellt sich der tragische Einschlag als viel stärker heraus, denn der komische.

Der Schuster Wilhelm Voigt hatte von seinen 56 Lebensjahren, auf die er zur Zeit seines Köpenicker Abenteuers herabblickte, rund 25 im Zuchthaus gesessen. Zuletzt war er im Februar 1906 aus dem Zuchthaus in Barwitz entlassen worden und hatte bei einem Schuhmacher in Wismar Beschäftigung gefunden. Trotzdem er sich dort nichts hatte zuschulden kommen lassen, wurde er von der Mecklenburger Landesregierung ausgewiesen und zog nach BerlinRixdorf zu seiner Schwester, die dort ein kleines Ladengeschäft betrieb.

Auch jetzt gelang es ihm nicht, ehrliche und lohnende Beschäftigung zu finden. Er soll einmal geäußert haben, er hätte nie eine Privatperson um den Wert eines Pfennigs beraubein wollen. Also kam er auf die Idee, es bei einer Gesamtheit zu versuchen. Daß große Sachen mit Soldaten zu machen seien, daran habe er nie gezweifelt, erklärte er bei seiner Verhaftung. Mit einer Uniform und auf die Militärmacht gestützt mache er alles, sogar mit noch ganz andern Leuten, als dem Bürgermeister und dem Kassenrendanten von Köpenick.

Trotzdem er nie gedient und Köpenick in seinem Leben nie gesehen hatte, führte er seinen Streich mit einer Sicherheit und einer Kaltblütigkeit durch, die sich nur daraus erklären, daß Voigt von dem maschinenmäßigen Klappen des Staats- und Heeresapparates felsenfest überzeugt war.

Er kaufte sich am 16. Oktober 1906 in Potsdam Uniformstücke zusammen, die einigermaßen den Eindruck einer Garde-Hauptmannsuniform machten, holte sich von der Straße eine vom Schießplatz einrückende Abteilung eines Garde-Regiments, unter dem Vorgeben, er habe auf Grund einer allerhöchsten Kabinettsordre eine Verhaftung vorzunehmen, zog mit diesen zwölf Leuten ins Rathaus von Köpenick, ließ den Bürgermeister und den Hauptkassenrendanten verhaften und nach Berlin abführen, beschlagnahmte den Kassenbarbestand im Betrag von 4002 Mark und entfernte sich mit der Weisung, daß die von ihm ausgestellten Wachen das Rathaus noch eine halbe Stunde lang besetzt halten sollten.

Als die Sache ruchbar wurde, brach allgemeine. Entrüstung aus, die indes bald durch noch allgemeinere Heiterkeit und stellenweise durch Bedauern abgelöst wurde. Die höchsten Militärwürdenträger interessierten sich für Voigt, der Kaiser ließ sich über den Gang der Angelegenheit wiederholt Bericht erstatten, der Zuchthäusler und Schustergesell stand auf Wochen und Monate hinaus im Vordergrund des Interesses.

Erst schrieben die Zeitungen, er müsse sicher gedient haben und verdanke seinen Erfolg nur der schneidigen Art, wie er auf Grund seiner militärischen Erziehung den Hauptmann imitiert hatte. Als er dann noch seiner Verhaftung als unansehlicher alter Mann, als hohlwangiger, schiefschultriger greiser Proletarier geschildert wurde, sprach man von einem grotesken Triumph der Achtung und Furcht vor der Uniform, einem Auswuchs blinden militärischen Gehorsams, einem Mangel an Bürgersinn, Mannesmut und Rechtskenntnis. „Die Feststellung, daß der Köpenicker falsche Hauptmann die Hälfte seines Lebens im Zuchthaus zugebracht und nie gedient hat, weil er schon als Achtzehnjähriger ins Zuchthaus wanderte, ruft ein Gefühl peinlicher Beschämung hervor und weckt von neuem zornige Betrachtungen über die Gefahren und Folgen blinden Soldatengehorsams im allgemeinen. .... Der Hauptmann ist eine wahre Jammergestalt.“

Dieser übellaunigen Auslassung einer Berliner Zeitung vom 26. Oktober 1906 hielt die „Frankfurter Zeitung“ die Feststellung gegenüber, „daß Voigt die Teilnahme und sogar auch das Herz der Berliner Bevölkerung erobert hatte“.

Tatsächlich war, als der zu vier Jahren Zuchthaus Verurteilte bereits im August 1908 auf ein Gnadengesuch hin vom Kaiser begnadigt wurde, für seinen Lebensabend durch Spenden und Vermächtnisse gesorgt.

Kurz nach seiner Begnadigung kam er nach Luxemburg, wo er die erste Zeit in mehreren öffentlichen Vorträgen Proben seiner Schlagfertigkeit und Beherrschtheit ablegte. Er markierte stets den „Hauptmann“ durch militärische Manteltracht, führte sich aber sonst als ruhiger Bürger in jeder Beziehung tadellos.

Das Tragische an der Geschichte ist, daß durch eine falsche Weichenstellung ein sonst vielleicht gut veranlagter Mensch auf Abwege geführt wurde, und daß grade dieser durch ein unerhört dreistes Unternehmen Schäden aufdeckte, die dann trotzdem nicht abgessen wurden und die heute von vielen Deutschen u den Ursachen mit aufgezählt werden, die den Zusammenbruch ihres Landes verschuldet haben.

Einen gibt es heute, der die Biographie des Hauptmanns von Köpenick schreiben könnte müßte: Carl Sternheim.

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