Original

11. Januar 1922

Vor einigen Wochen stand hier der Name Hebel. Er weckte Erinnerungen, und ich blätterte in dem alten Exemplar, das ich noch von der Schule her befitze. Ich las unter andern die allerliebste Geschichte von dem müden Handwerksburschen, der die Schiffer bittet, ihn mitzunehmen für Geld und gute Worte. Sie sagen, es sei auf dem Schiff kein Platz, aber wenn er mit treideln wolle? Er war es zufrieden, spannte sich mit an das Tau und zog wacker bis zur nächsten Herberge. Dort bezahlte er sein Passagiergeld und dankte den Schiffern für ihre Freundlichkeit.

Ich erwähnte die Geschichte bei Freunden. Sie lachten und erzählten mir eine andere, die noch viel drolliger und natürlich ebenfalls buchstäblich wahr ist.

Sie soll im hohen Norden passiert sei.

Eine fröhliche Gesellschaft kam zu später Stunde von einem gütigen Gastgeber, dessen Burgunderkeller zu den Merkwürdigkeiten der Gegend gehörte und dessen Burgunderabende nur mit Andacht von den Teilnehmern erwähnt wurden. Er „chambrierte“ seine Flaschen in der Weise, daß er sie in einen großen Korb tat und diesen achtzehn Tage vor dem Genuß auf die unterste Stufe der Kellertreppe stellte. Am folgenden Tag wurde der Korb auf die zweitunterste Stufe gehoben, und so jeden Tag eine Stuse höher. Wenn die achtzehn Tage um waren, stand der Korb ganz oben, denn die Treppe zählte achtzehn Stufen.

Das tat der Besitzer des Kellers, damit der Burgunder im Geschmack nicht durch eine zu brüske Temperaturänderung Schaden litte!

Ich erwähne den Umstand nur, um zu verhüten, daß die Stimmung, in der sich die Gäste an jenem Abend befanden, mit dem Zustand einer ganz gewöhnlichen Beschwipstheit verwechselt werde.

Man sagte sich also gute Nacht und begab sich nachhaus in dem bekannten Bewußtsein. Die einen zu Fuß, die andern per Wagen.

Ein besonders ferventer Burgunderanbeter hatte dem Gastgeber grade mit Tränen in der Stimme die Hand geschüttelt und ihm versichert, er werde jedem die Hirnschale einschlagen, der ihn scheel ansehen werde, als grade ein Wagen sich in Bewegung setzte.

„He! Ich sahre mit!“ rief der Gast, stütpte seinen Hut tief in den Kopf, stürzte die Treppe herunter und bekam grade noch hinten am Wagen die Achsenstange zu fassen.

Zufrieden, daß er die Fahrgelegenheit erreicht hatte, trabte der Gast hinterdrein, schnell, langsam, schneller, Schritt, Trab, wie es Steigung und Gefälle mit sich brachten. Er lachte in sich hinein, wenn ihm ein Witz einfiel, den er abends gehört hatte, oder er fluchte, wie ein Heide, wenn er daran dachte, daß er einem die Hirnschale einschlagen sollte, der den Gastgeber scheel angesehen hatte.

Auf einmal kam ihm die Gegend bekannt vor und er rief aus Leibeskräften:

„He, Kutscher, halten! Ich bin zuhaus!“

Dann griff er in die Tasche, gab dem Mann einen Taler - es war noch in der schönen alten Zeit, wo ein Taler einen Schatz bedeutete - und sagte: „Adjüs, danke, Sie können weiterfahren!“

Wenn die Geschichte nicht im hohen Norden passiert ist, so war es wo anders. Aber sie könnte auch im hohen Norden passiert sein.

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KatalognummerBW-AK-010-2062