Original

15. Januar 1922

Wir sind doch die richtigen Allerweltsmenschen, im wörtlichsten Sinn. Wir haben einen Drang ins Weite, der im umgekehrten Verhältnis zum Flächeninhalt unseres Vaterländchens steht.

Wie ich grade auf diese Idee verfalle?

Vor mir liegen eben zwei Postkarten, davon eine mit Ansicht. Die andere ist von einem lieben Landsmann aus Madrid, die eine, mit Ansicht, von einem dito aus Nagasaki. Die Ansicht besteht aus vier reizenden Geishas und aus der Versicherung, daß es in China, wo der bewußte Landsmann sich grade hinwenden wollte, noch viel schöner sein wird, als in Japan. Weil die Chinesen gute, schlichte, aufrichtige Kerle sind, die jeden Menschen in Ruhe denken lassen, was ihm paßt, und ihn nicht zwingen, seine Facialmuskeln zu einem Lächeln zu verziehen, wenn ihm innerlich nicht darnach zumut ist. Das ist der greulichste Zwang, lächeln zu müssen, wenn man heulen oder fluchen oder auch einfach ruhig in sich hinein sinnen möchte.

Ich muß sagen, ich wäre lieber bei dem Landsmann in Nagasaki, als bei dem in Madrid. Nicht wegen der Geishas, bitte, sondern weil es weiter ist.

Unsere Sehnsucht geht in die Welt. Und sie ist eine ganz andere, reinere Sehnsucht, als die der andern. Denn uns zerfällt die Welt nicht in Freund und Feind, in Gebiet, das man erwerben oder verlieren, mit Blut erobern und mit Blut einbüßen kann, das sich kolonisieren läßt oder nicht, über das man ein Protektorat errichten und sich mit seinen Nachbarn verprügeln wird, um das vielleicht Weltkriege ent- stehen können. So sehen wir Gottes Erde nicht. Sie ist uns immer noch ein Geschenk des Himmels an die Menschheit. Wie das blaue Firmament, das noch heute allem und keinem gehört, aus dem wir uns ganze Flächen, so groß wie Amerika, als unsern Besitz herausschneiden können, ohne daß wir darum mit einem Nachbarn hadern müssen. Kommt es einmal zum interastralen Verkehr, dann werden sie sich um den Himmel streiten, wie jetzt um die Erde, und sich darum die Hälse abschneiden und sich in die Luft sprengen, wer auf der Sonnenseite eines Sterns Kautschuk pflanzen und die Eingeborenen ausrotten soll mit Schnaps und andern Kulturerrungenschaften.

Einstweilen ist, wie gesagt, der Himmel noch Gemeingut. Und uns Luxemburgern erscheint die Welt fast noch wie der Himmel, weil wir uns noch um keine Quadratmeile davon mit andern zu streiten hatten. Sie ist uns das ewige Gottesgeschenk, das allen gehört.

Und darum sollte man uns dazu rufen, wenn sich die Völker um einen Futterplatz streiten. Wir stehen in unserer Kleinheit nicht unter, sondern über den Parteien. Grade die Kleinen sollte man nach Cannes schicken, um am Weltfrieden zu bauen.

Wenn sich die Eltern grollen, gibt es keine erfolgreicheren Vermittler, als die Kinder, die immer unparteiisch sind - und die unter dem Streit am meisten zu leiden haben.

TAGS
  • Plauderei
KatalognummerBW-AK-010-2066