Mit einer Frau und Mutter, die grade „Das Weib“ von Magdaleine Marx gelesen hatte, sprach ich über das Buch. Nicht über seine transzendentanatomische Erotik, sondern über das Verhältnis der Heldin zu ihrem Baby.
Es war eine einfache und gescheite Frau, die aus ländlich einfachen Verhältnissen in ein intellektuelles Milieu versetzt ist.
„Immer - sagte sie - wenn ein solches Buch erscheint, heißt es, jetzt sei das definitive Wort über Frauenpsychologie gesagt. Als Karin Michaelis in ihrem „Gefährlichen Alter“ sozusagen in Hemd und Hosen über den Markt gegangen war, schrien sie, jetzt sei das Geheimfach der weiblichen Psyche erschlossen Und jetzt wieder. Jetzt hat sich auch das Mutterherz enträtselt. Ich will Ihnen was sagen: Mit uns Frauen kommt Ihr vielleicht eines Tages so weit, daß Ihr uns auf den Grund der Seele blickt. Es ist mit uns gar nicht so weit her, wie Ihr glaubt. Ich muß immer lachen, wenn wieder einer von Euch so einen weiblichen Dämon konstruiert hat, um den Fall eines sogenannten Besten zu erklären und ihn aus dem Gemeinen ins Tragische zu rücken. Aber die Seele des Kindes erforschen, das ist noch viel schwerer, als das Perpetuum mobile. Aus irgend welchem Jenseits von Gut und Böse, von Sein und Nichtsein, fallen Reflexe auf die Kinderseele, wir sehen sie reagieren und finden dazu eine Erklärung aus unserm Erkenntnisschatz. Dann heißt es, wir kennen die Kindesseele durch und durch.
Darf ich Ihnen ein Geschichtchen aus meinem Leben erzählen? Als mein Junge, der heute Arzt ist - Sie kennen ihn ja - noch ganz klein war, spielte er eines Abends in der Dämmerung zu meinen Füßen. Er war vielleicht zwei Jahre. Er hatte sich aus der Holzkiste vier, fünf Stücke von dem schönen, glatten Buchenholz geholt und spielte damit Eisenbahn. Er baute sich in die flatternde rote Glut, die aus dem Ofenmund auf den Fußboden spielte, einen Zug. Vorne ein aufrecht gestelltes Stück war der Lokomotivschornstein, die andern folgten als Wagen in einer Reihe. Ich mußte sein Werk bewundern. Dann ahmte er mit heftig herausgestoßenem Atem die anziehende Lokomotive nach. Und plötzlich stürzte er sich mit einem gellenden Angstschrei in meinen Schoß und war nicht zu beruhigen. Ich glaubte, er hätte sich am Ofen verbrannt oder an einem Holzsplitter verletzt. Aber es war nichts aus ihm herauszubringen. Er kroch weinend in mich hinein und entschlief zuletzt auf meinem Schoß.
Als er schon über zwanzig war, erzählte ich ihm eines Abends, da wir zusammen in der Dämmerung am brummenden Ofen saßen, jenes seltsame Erlebnis.
„„O ja,““ sagte er, „„ich erinnere mich sehr wohl. Es war die entsetzliche Angst, ich könnte vom Zug überfahren werden. Wir wohnten in der Nähe des Bahnhofes, unser Garten stieß an den Bahnkörper, du hattest mir immer vor den Schienen angst gemacht. Und nun wuchs auf einmal meine selbstgebaute Lokomotive mit ihren Wagen zu Lebensgröße an und ich floh brüllend vor der Gefahr.““
„Sehen Sie, auf diese Erklärung wäre ich nie gekommen. Hätte ich ein Buch über die Kinderseele geschrieben, so hätte ich vielleicht eine feinsinnige Deutung gesunden, und ich wäre als die beste Kennerin der Kinderseele gepriesen worden.“