„Weißt du noch, damals ....!“
„Ach ja! Im Louvigny! Der Postillon von Longjumeau!“
Und mit einmal tauchten die verrückten Stunden wieder auf.
Sie waren verrückt, wir lachten, daß wir von den Stühlen fielen. Aber der Held schwebte hoch über uns und über der Bosheit seiner Zeitgenossen in rosigen Nuhmeswolken und schwelgte im Bewußtsein der unerhörten Steigerung seiner Persönlichkeit.
Er war ein würdiger und rechtschaffener Kaufmann, aber er war überzeugt, daß ihn eine scheelsüchtige Fee aus seiner Bahn in einen falschen Beruf gedrängt hatte. Er verkaufte Zigarren, aber er fühlte sich als gottbegnadeter Sänger. Wenn sein tiefer Bariton durch seine Stimmbänder vibrierte, war es, als setzte sich die weiche Erschütterung durch seinen ganzen Körper fort und verursachte ihm ein Behagen, wie dem Kater das Schnurren. Wenn er sagte: „Ich kann Ihnen diese Sorte zu 7 Centimes warm empfehlen,“ so klang das wie: „In diesen heiligen Hallen ....“
„Ich habe Millionen in der Kehle stecken,“ pflegte er zu sagen. Worauf seine Frau verächtlich hinwarf: „Ja, hätten wir sie heraus!“
Sein Name tut nichts zur Sache. Alle, die damals - ich sage lieber nicht, wie lange es schon her ist, denn es sind auch Damen beteiligt - in Luxemburg lebten, wissen Bescheid.
Wie es nur kam? Damals hatten die ersten politischen Versammlungen in Luxemburg stattgefunden. Sie waren in eitel Ulk ausgeartet. Eines schönen Sonntag Nachmittags stand unser Mann im Louvigny auf der Bühne und sang. Der Saal war zum Brechen voll. Papa Amberg hatte für die nötige Reklame gesorgt.
Da stand er also, der Sänger von Gottes Gnaden. Kaum wiederzuerkennen. Der Zigarrenhändler war fort, an seiner Stelle stand jemand, in dem ein unheimliches Feuer brannte. Seine Augen schossen Blitze, sein Antlitz war von Glück und Stolz ver- klärt, er triumphierte, er war ein Cott - sein Traum war wahr geworden, er durfte singen, er durfte mit der Gewalt seiner Stimme die Herzen seiner Mitbürger bezwingen!
Er legte also los: Der Rattenfänger! Seine Hände fuchtelten herum, als gehorchten sie einem Dämon, der in ihn gefahren war, bald griffen sie in die Luft, als wollte er an einem imaginären Reck den Riesenschwung ausführen, bald drückte er sie gegen den Bauch, als hätte er wahnsinniges Leibschneiden. Die vollsten Töne holte er aus den Tiefen seines Brustkastens, sein Gesicht, vom andrängenden Blut gedunsen, bedeckte sich mit Schweiß, er rollte die Weise dröhnend den Berg hinan bis zum Gipfel und stand oben und sang in der Apotheose seines Künstlertums: „Ein fahrender Sänger, von niemand gekannt!“
Der Beisall brach los, wie Donnergetöse, man krümmte sich vor Lachen, stieß sich vor Ausgelassenheit von den Stühlen, brüllte Bravo ... und er stand oben, von dem Tosen getragen, wie von Sonnenwolken.
Und ich lachte auf einmal nicht mehr. Ich verstand ihn. Ich gönnte ihm sein Glück.
Eine Weile ging es noch crescendo. Er erweiterte sein Repertoire. Er sang auch französisch: Minuit chrétiens, Le Crédo du paysan. Und auch: Wenn du noch eine Mutter hast. Beinahe hätte er es dem Papa Amberg übel genommen, als dieser nach der letzten Strophe dieses Schmachtfetzens auf die Bühne kam, sich mit einem großen Aufwischlappen die Tränen trocknete und ihn auswringte, daß das Wasser in Strähnen auf die Bühne klatschte.
Zuletzt sang er den Postillon von Longjumeau. Erst in Zivil, dann im Kostüm, mit weißen Leverhosen, Stulpenstiefeln, kurzem Schwagerfräckchen und Lackhut mit Kokarde, die Peitsche nicht zu vergessen.
Das brach ihm den Hals. Seine Familie legte sich ins Mittel und bereitete seiner Künstlerlaufbahn ein jähes Ende.
Aber vier Wochen lang war er glücklich gewesen. Und bis zu seinem seligen Ende war er überzeugt, daß nur Neid und Mißgunst ihn um den Lorbeer eines Künstlerdaseins betrogen hatten.
N.B. - Nicht zu verwechseln mit unserm sympathischen Zeitgenossen und Mitbürger der zuweilen im Majestic in annähernd demselben Repertoire auftritt.