Original

20. Januar 1922

In der letzten Sitzung des Gemeinderates lief Frau Becker Sturm gegen das Armenbüro und wollte es durch ein Wohlfahrtsamt ersetzen, dessen mannigfaltige Tätigkeitsgebiete sie aufzählte: Schutz der werdenden Mütter und der Wöchnerinnen: Säuglingsfürsorge; Kleinkinderfürsorge; Einrichtung, Verwaltung und Beaufsichtigung von Kleinkinderbewahranstalten (Krippen und Kinderheimen); Gesundheitliche Maßnahmen für Kinder im schulpflichtigen Alter (Ferienkolonien, Landaufenthalt, Badekuren); Jugendfürsorge und Jugendpflege; Fürsorgeerziehung; Fürsorge für Blinde und Taubstumme; Bekämpfung der Tuberkulose, Skrofulose, Geschlechtskrankheiten und Trunksucht; Krüppelfürsorge; Wohnungsfürsorge; Kranken- und Hauspflegewesen; Rechtsberatung und Rechtshilfe; Arbeitslosenfürsorge.

Bei der Kampagne, die jüngst gegen das Armenbüro geführt wurde, scheinen sich die Wenigsten über das Wesen der Einrichtung und über Zweck und Ziel ihrer Bekämpfung klar gewesen zu sein.

Das Armenbüro durch ein Wohlfahrtsamt ersetzen, heißt ungefähr dasselbe, wie einen Stubenofen durch eine Telefunkstation ersetzen. Beide sind notwendig, aber sie können nicht eins fürs andere stehen.

Das Armenbüro heißt auf Französisch «bureau de bienfaisance», Wohltätigkeitsbüro. Da nur Arme in den Fall kommen, die Wohltaten dieses Büros zu genießen, wird es im Volk Armenbüro genannt. Wir haben bezeichnenderweise in unserer Mundart kein Wort für Wohltätigkeit.

Auf dem Lande draußen ist das Armenbüro heute stellenweise derfallen oder führt nur ein schemenhaftes Dasein. „Wir haben keine armen Leute im Dorf,“ sagen die Bauern und betonen damit, daß in ihrem Kreis alle arbeiten und ihr Brot verdienen. Nur zu gern setzen sie arm mit Bettler gleich. Tatsächlich steckt kein Beispiel so sicher an, wie das Beispkel der Arbeit, und selten trifft man heute auf den Bauerndörfern noch die Hütten, in denen die ganz Armen wohnen, die Kunden des Armenbüros.

Und doch sände draußen das Wohlfahrtsamt der Frau Becker ein ergiebiges Feld für seine Tätigkeit, nicht in allen aber in mehreren Punkten, und schon das beweist, daß es kein Ersatz für das Armenbüro ist. Es ist ein Ding für sich, das in keiner Weise sich aus jenem andern Ding, dem Armenbüro, entwickeln kann. Zwischen beiden besteht keine Wesensverwandtschaft. Das Wohlfahrtsamt muß vor allen Dingen mit der Form des Ehrenamts brechen, das für das Armenbüro charakteristisch ist. Ehrenamtliche Tätigkeit ist in der Regel Dilettantismus. Aufopferung und Hingabe an eine gute Sache, alle Achtung. Sie sind aber nur da zu gebrauchen, wo es nicht auf eine Spezialisierung ankommt. Die einzelnen Abteilungen des Wohlfahrtsamtes aber, wie sie Frau Becker vorsieht, verlangen Spezialisten, fachmännisch gebildete Kräfte. Was kann ein Dilettant, Mann oder Frau, beim besten Willen z. B. in der Bekämpfung der Tuberkulose, der Geschlechtskrankheiten, der Trunksucht leisten? Der verdammte „gute Wille“ ist auf all diesen Gebieten an dem übelsten Schlendrian und Dilettantismus schuld. Also hoffentlich wird das Wohlfahrtsamt eine Versammlung von Leuten, die nicht nur guten Willens sind, sondern die in den verschiedenen Abteilungen fachmännisch Bescheid wissen. Mit Gesundbeterei ist da nicht geholfen. Die Mitglieder dürfen nicht gewählt, sondern müssen ausgewählt, ernannt und besoldet werden.

Dies Wohlfahrtsamt hat mit der Tätigkeit des Armenbüros nichts zu schaffen. Das Armenbüro verteilt Unterstützungen in besonderen Notfällen. Es ist der kommunalisierte und laizisierte Vinzenzverein. Vielleicht werden nachträglich manche empfinden, daß es schon deshalb in seiner bisherigen Form beibehalten werden muß.

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