Original

31. Januar 1922

Von Zeit zu Zeit begegnet man solchen Frauen: Sie sind Mädchen und Frau, Mutter und Jungfrau, sind sind schlechthin Weib, Typ, Prinzip. Sie sind an kein Niveau gebunden. Sie konnen grade so gut Charlotte Kestner heißen, wie Kathi Kobus oder La Nabouilleuse Oder Andrée Nadarys.

Ich kann Ihnen nicht sagen, wo Sie heute abend Charlotte Kestner oder Kathi Kobus oder die Rabouilleuse treffen können. Von der Andrée Nadarys weiß ich es bestimmt: Im Pole Nord.

Sie werden da sitzen, der Vorhang wird aufgehen und von der Bühne herunter wird wie frische Lust ein Hauch von sieghafter Gesundheit durch den Saal strömen. Er geht von einer Frau aus, die oben steht und singt. Aber das Singen ist Nebensache, ihre Hauptfunktion ist Gesundsein. Nicht als bloßer Zustand, sondern als Handlung. Sie ist gesund in aktivem Sinn, in wirkendem Zustand. Die Gesundheit vibriert an ihr. Schön? Auch das ist Nebensache. Natürlich ist sie schön, denn sie ist natürlich schön. Sie ist mit Schönheit behängt, wie eine Exzellenz mit Ordenskreuzen: Weil es zu ihren weiblichen Funktionen gehört, schön zu sein. Sie hat die beauté du diable, die man so nennt, weil sie die Schönheit der Jugend ist, denn in seiner Jugend war auch der Teufel schön. Sie ist schön, wie eine Blonde, die schwarz, oder eine Schwarze, die blond wäre. Denn sie hat die Schönheit beider, weil sie die Schönheit des Weibes hat, die aus Frische und Gesundheit gemacht ist, die einem blühenden Apfelbaum gleicht.

Ist Ihnen schon aufgefallen, daß die kleinsten Knirpse am liebsten auf die größten Bäume klettern, und daß sich in große Frauen am öftesten die kleinsten Männer verlieben? Sie kennen ja das uralte luxemburger Volkslied: Et wor emal e klenge Männchen, Heijuchhei, De wollt eng gro’ß Frächen hun, heididiridirallala jupterjuchhei!

Da steckt wieder der Genius der Gattung dahinter, der auf einen anständigen Durchschnitt aus ist. Das kleine Männlein denkt sich gar nichts bei seiner Vorliebe für das Hünenweib, aber der Genius der Gattung hetzt ihn auf sie, damit die Zukunft wieder auf Militärmaß gestellt sei. Und umgekehrt sehen wir beispielsweise in den Karnevalstagen, wo die Berührungspunkte häufiger sind und die Auswahl reicher ist, wie breitschultrige Enakssöhne sich am liebsten durch Püppchen ergänzen, die ihnen kaum bis an die Brustwarze reichen.

Fräulein Andrée Nadarys ist nicht zu groß und nicht zu klein, sie ist, wie gesagt, gleich einem Musterdurchschnitt durch die Nasse. Glücklich das Volk, das viele Tausende solcher Frauen besitzt, ob sie nun auf dem Brettl oder ob sie an der Wiege ihrer Kinder singen.

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    KatalognummerBW-AK-010-2079