Stellen Sie sich vor, ein lieber, gescheiter Mensch nimmt Sie bei der Hand und führt Sie in Ihrem Vaterhaus herum und zeigt Ihnen in verborgenen Ecken, alten Truhen und Schränken und gar in Verstecken unterm Kellerboden allerhand Kostbarkeiten, von denen Sie keine Ahnung hatten und die alle zu Ihrem Vaterhaus gehören: Sie würden ihm die Hand drücken und ihm von Herzen dafür danken, daß er Ihnen diese Schätze erst zu eigen gemacht hat.
Nun, ich stelle Ihnen hiermit Herrn Joseph Wagner vor, Ingenieur der Dommeldinger Hütte, dem Sie diesen Dank abstatten können, denn er hat allen Luxemburgern eine Fülle von Erinnerungsund Wissensschätzen geschenkt, die ohne ihn für die Allermeisten ungehoben geblieben wären.
Er hat nämlich ein Buch geschrieben. Es gibt Bücher, die man nicht zu lesen braucht. Sie haben ihren Zweck erfüllt, wenn der Verfasser seinen Namen auf dem Titelblatt gedruckt sieht. Und es gibt Bücher, die man lesen muß, weil man damit eine Bürgerpflicht erfüllt.
Zu diesen gehört das Buch von Joseph Waauer decouverte du gisement des minettes. - Histoire technique du bon vieux temps.»
Schon der Titel, in dem die „gute alte Zeit“ beschworen wird, sieht Dich wie aus freundlichen Augen an und sagt: Komm, Du wirst Dich nicht langweilen!
Gegen heute mutet uns die Zeit der alten Schmelzen und Kohlenmeiler gemütlich an. Sie hat sich uns in der Entfernung zu reiner Poesie verklärt. Aber aus der Nähe war sie Arbeit und Gedröhne. Das Lied vom armen Köhlerleben klingt heute ganz schön, aber das Leben der Köhler, wie es Wagner schildert, würde heute den fleißigsten aller Arbeitslosen nicht von der Staatskrippe locken. Und der Eisenhammer muß dazumal in hohem Ansehen bei den Dichtern gestanden haben, die die Industrie in ihrem lärmendsten und gesährlichsten Auswirken schildern wollten. Siehe Schiller.
Unsere Berg- und Hüttenindustrie ist heute die reichste Geldquelle des Fiskus. Bei den reichsten Onkeln und Tanten interessiert man sich am meisten für Ursprung und Laufbahn. Wagner befriedigt diese Neugier in bezug auf die Metallurgie restlos. Sein Buch ist mit der Geschichte von Prosper Müllendorff mit das stofflich interessanteste, das seit Jahrzehnten über bestimmte Abschnitte unserer Vergangenheit erschienen ist.
Zum Teil aus den besten und zuverlässigsten Quellen, zum Teil aus selbst gesammelten Material, worunter sich auch höchst interessante, bisher nie veröffentlichte Ansichten, Pläne und Karten befinden, schildert Joseph Wagner die Entwicklung der Erzund Eisengewinnung im Lande Luxemburg, von der keltischen Epoche über die Zeit der Römer und des Mittelalters bis zur Entdeckung der Minettelager, um dann in einem zweiten Teil auf die Geschichte eines jeden einzelnen der alten Werke einzugehen: Colmar-Berg, Bissen, Fischbach, Berburg, Dommeldingen, Lasauvage, Simmern, Ansemburg, Rollingen, Weilerbach, Grundhof, Rümelingen, Eich.
Das alles liest sich, wie eine große Familienchronik. Und als ich das Buch aus der Hand legte, sagte ich mir, daß da das Gerüst zu einem der großartigsten Kulturromane der Literaturgeschichte gegeben wäre: Der zauberhafte Hintergrund einer Vergangenheit, die mit unheimlich deutlichen Spuren in unsere Zeit herübergreift, das neue Werden, das von genial veranlagten Menschen, wie August und Norbert Metz, bestimmt wird, ein Ausgangspunkt, der an romanhaster Strahlungskraft, an Amerikanismus nichts zu wünschen übrig läßt: Die Entdeckung der Eisensteinlager durch den französischen Landmesser Renaudin, der Kampf des Alten - Bohnerze, Holzkohlen, Empirismus - mit dem Neuen - Minette, Galeriebau, Koks, Wissenschaft -, das alles sind gewaltige Steine zu einem Bau, der ein richtiges literarisches Nationaldenkmal werden könnte, wenn sich der richtige Baumeister dafür fände.
Einstweilen lest alle dies Buch von Wagner. Ihr müßt es lesen, nicht nur die aus der Südwestecke des Landes, auf und in deren Heimatboden der liebe Herrgott das Eisen wachsen ließ, von dem wir die Liebe zur Freiheit im Blut haben, alle sollten dies Buch lesen, um sich ihr Land zu eigen zu machen.
Denn glaube mir, es ist ein seltsam gesteigertes Besitzergefühl, wenn Du über die Erde Bescheid weißt, die Dich trägt. Wenn Du auf einer Wanderung nach dem idyllischen Fischbach z. B. auf den Notunden der alten Kohlenmeiler Erdbeeren glühen und Glockenblumen schaukeln, im Schloßweiher die Riesenforellen stehen siehst, von der lustigen Försterin eine muntere Geschichte hörst, und Du kannst Dir ausmalen, wie es da vor Jahren und Jahrhunderten ausgesehen haben mag. Oder wenn Du durch die zerrissenen und zerklüfteten Berghalden und Täler um Differdingen steigst und Dir vorstellen kannst, daß nach abermals ein paar tausend Jahren hier vielleicht wieder Waldeinsamkeit und Vogelsang und grasende Rehe.