Original

22. Februar 1922

In der neuen Revue «Belgique-Luxembourg», von der gestern in unserm Blatt die Rede war, wird als erster Vertreter der literarischen Produktion in unserm Ländchen Herr Marcel Noppeney angeführt. Er hat der Redaktion ein Gedicht aus seinem nächsten Buch «Poèmes de la guerre et du bagne» zur Verfügung gestellt, „dessen Veröffentlichung von allen Freunden der Literatur mit Ungeduld erwartet wird“.

In einer folgenden Nummer sollen Auszüge aus den Werken „eines andern guten luxemburger Dichters“, Paul Palgen, veröffentlicht werden.

Zu dieser Auswahl ist ein Kommentar erfordert, damit es nicht, wie schon früher, zu Mißverständnissen kommt.

Herr Paul Palgen und Herr Marcel Noppeney sind unstreitig und unbestritten diejenigen Luxemburger, die die besten französischen Verse gemacht haben. Aber kann man sie für das luxemburger Schrifttum in Anspruch nehmen?

Sie sind Luxemburger von Geburt. Aber sie sind beide in französische Kulturverhältnisse hinein- geboren. Paul Palgen sagt von sich in einem besonders schönen Gedicht, wie er seinen Eltern dankbar dafür ist, „daß seine Wiege auf der hellen französischen Erde gezittert hat“.

Diese beiden Luxemburger haben französischen Rhythmus, französischen Sprachgeist, französisches Empfinden und französischen Intellekt mit der Luft eingeatmet, in der ihre Kindheit verfloß. Wenn sie französisch schreiben, schreiben sie ihre Muttersprache.

Luxemburger aber, die französisch oder deutsch schreiben, arbeiten mit einem geistigen Werkzeug, an das sie sich erst mühsam haben gewöhnen müssen. Das Französische besonders wird unter normalen Verhältnissen keinem von uns in dem Alter vertraut, in dem eine fremde Sprache einem in Fleisch und Blut übergeht. Mit dem Deutschen verhält es sich etwas günstiger, aber es wird uns trotzdem nie zur Muttersprache.

Wer also von luxemburger Literatur in bezug auf französische oder deutsche Werke spricht, hat nicht die Produkte eines in heimischer Erde wurzelnden, aus primärem Antrieb gebärenden Schaffens im Auge, er denkt an die handicapierte Mittelbarkeit desjenigen, der sich sein geistiges Werkzeug, die Sprache, erst hat erarbeiten müssen, der einigermaßen im selben Falle ist, wie ein Maler, dem der rechte Arm festgebunden wurde und der mit der Linken malen muß. Er kann es zu großer Fertigkeit bringen, aber seine Linke wird gegen die Rechte lange, wenn nicht immer im Nachteil bleiben.

Unser literarisches Schaffen ist eine der Proben auf die Daseinsberechtigung unserer geistigen Unabhängigkeit, unserer nationalen Eigenart, unserer Mischkultur. Wir haben den Beweis zu liefern, daß ein Volk, dessen Muttersprache im höheren Austausch der Gefühls- und Erkenntniswerte ausgeschaltet wird und das sich deshalb in der Sprache zweier großer Kulturvölker heimisch macht und machen muß, trotzdem sich als Volksganzes auch geistig zu behaupten vermag. Und da sind nur solche Stichproben beweiskräftig, bei denen es sich nicht um angeborene, sondern um erworbene Eingeschliffenheit der Gedanken- und Gefühlsgleise handelt.

Zwischen diesen und den andern besteht derselbe Unterschied, wie zwischen erworben und geschenkt.

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