Original

5. März 1922

Ab und zu muß sich der Mensch mit Schönheit umgeben.

Dieser Weisheit eingedenk kaufte ich mir sechs Tulpen und stellte sie auf meinen Schreibtisch.

Die Tulpe erfüllt unter den Blumen ein Schönheitsgebot der Zeit.

Sie ist die Monna Lisa unter den Blumen.

Sie ist geheimnisvoll unkompliziert, feierlich zärtlich, majestätisch einfach.

Sie hat nicht das Unterröckchen-Spitzengekräufel der Rose, sie geht in seidener Combination. Wäre sie ein Mann, so würde ich von ihr sagen, sie ginge glatt rasiert.

Meine Tulpen sind von einem inbrünstigen Gelb, das rot durchzischt ist. Sie gleichen Flammen im hellen Tag. Sie klingen mit ihrer Farbe, wie wenn viele Celli in hoher Lage unisono eine verhaltene leidenschaftliche Weise spielen und gedämpfte Trompetentöne hineinfließen.

Die schlaffen Lanzen ihrer Blätter sind voll einer kühlen, graugrünen Vornehmheit. Sie sind wie müde, schlanke Hände von Aristokraten.

Ihre Kelche sind Märchengefäße von wunderbarer Formung in jedem Stadium der Entfaltung: Erst selbstbewußte Geschlossenheit, dann zärtliches Erschließen, und Hingegebensein, dann Verfallen in Schönheit.

Erst hielten sie zusammen, wie Pensionsfreundinnen, dann senkten sich ihre Stengel zentrifugal in Vandervelde’schen Linien auseinander und jede Blume lebte ihr Eigendasein. Wie Pensionsfreundinnen, die das Leben und die Liebe auseinanderführte.

Auf dem Grund des warm durchleuchteten Kelches sitzt eine Königin hoch auf ihrem Thron. Der Thron steht auf einem gelben, sechsstrahligen Teppichstern, der graugrün verbrämt ist, und um die Königin stehen schmachtend ihre sechs Ritter und Gatten. Der Kelch ist ein Tempel, voll von dem Licht des Allerheiligsten. Denn hier wird das Leben gewirkt.

Lieber Leser, Du mußt Dich zuweilen mit Schönheit umgeben. Du mußt Blumen auf Deinen Tisch stellen und Dir denken, sie seien das Geschenk einer Frau, die einmal durch Deine Träume ging. Sie sei gekommen und habe heimlich mit schlanken, weißen Fingern die Blumen in die Vase geordnet und sei wieder gegangen, ohne daß Du sie sahest. Und der Duft der Blumen sei der Duft ihres Haares und ihres Schleiers.

Du hast die Wahl. Du kannst Dir Rosen kaufen oder Nelken, Veilchen oder Tulpen und Dir jedesmal die denken, die Du meinst. Vielleicht ist es immer eine andere, vielleicht ist es immer dieselbe, ob Du Dir Rosen auf den Tisch stellst, oder Nelken oder Tulpen.

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KatalognummerBW-AK-010-2104