Von den Lippen, Wangen, Augen, Wimpern, Brauen, Haaren - von allen Teilen des Gesichts singen und sagen die Dichter geläufig. Nur von der Nase nicht, und selten vom Kinn.
Der Nase habe ich schon zu der ihr geschuldeten Ehrenrettung verholsen. Also reden wir vom Kinn.
Nichts unterscheidet das menschliche Gesicht so sehr von dem des Tieres, wie das Kinn. Die Tiere haben Augen, Stirn, Nase, Backen, einige haben sogar Lippen - keines hat ein Kinn. Selbst der schönste Antyropoive hat dazu nur einen komischen Ansatz.
Das Kinn ist die Stelle, wo die Natur einem Gesicht seinen besondersten Stempel aufdrückt. Eine fliehende Stirn ist nicht so schlimm, wie ein fliehendes Kinn.
Meint die Natur es besonders gut mit einem hübschen Mädel, so gibt sie ihm ein rundes, rosiges Kinn und drückt ihm mit schlankem Feenfinger ein Grübchen in die Mitte. Und wo sie so ein Grübchen gräbt, fallen viele hinein. Nie hat jemand erforscht, worauf der Neiz des Grübchens im Kinn beruht. Es ist da, aber zu erklären vermag es niemand. Es steht so hoch im Kurs, daß das Kinn fast nur besungen wird, wenn es ein Grübchen hat, wie die Auster, wenn sie eine Perle birgt. „Mei Schaatz huet eng Kailchen, eng Kailchen am Könn“ - ist eines der schönsten Lieder, die Lorenz Menager komponiert hat, und alle Huldinnen, die damit gemeint sein können, hoffen zuversichtlich, daß es bei der bevorstehenden Menagerfeier gesungen wird.
Leider ist das Kinn nicht immer der Sitz solcher Schönheit. Es gibt Frauenkinne, aus denen heraus sich indiskrete Kraushärchen schlängeln und den Besitzerinnen die Freude am Leben vergällen. Glücklich diejenigen, bei denen eine solche Zierde sich erst einstellt, wenn sie auf Liebe keinen Anspruch mehr machen. Den andern sei geraten, diese vorlauten Anzeichen einer allzu männlichen Veranlagung sorgfältig vor den Geliebten zu verbergen. Drei Haare am Kinn wirken in der Liebe verheerender, als drei Furchen. Weil sie das ewig Weibliche mit Männlichkeit verunzieren, und das ist das Schlimmste. Man stellt sich Julia vor, wie sie zärtlich mit sanften Fingerspitzen das seidige Kinnbärtchen Romeos karessiert - man kann sich keinen Mann denken, der an den Kinnhärchen einer Geliebten spielte und dazu süße Minneworte flüsterte.
Das Kinn ist sozusagen die Handhabe, der Stiel unseres Gedankenapparates. Wenn Du ganz intensiv denkst, mit krauser Stirn und zusammengezogenen Augenbrauen, nimmst Du am liebsten Dein Kinn in die Hand. Probiere die Stellung: Du siehst direkt monumental aus. Männer, die sehr viel und große Gedanken haben, lassen sich den Bart lang wachsen, als Verlängerung des Kinnes, um einen längeren Stiel zu haben. Siehe den Moses und andre Berühmtheiten von Michel Angelo.
In Amerika ist das Kinn soviel wert, wie herüben das höchste Prüfungsdiplom. Es ist der Sitz der Energie. Wird in einem Roman ein Mann beschrieben, so wird ein Hauptgewicht auf seine Kinnladen gelegt. Darum tragen die Amerikaner keinen Bart, damit jedermann ihr Diplom sehen kann. Wenn Ihnen ein bärtiger Amerikaner begegnet, so können Sie zehn gegen eins wetten, daß er entweder häßliche Jaws hat oder leicht an Zahnweh leidet.
Wenn das Kinn ein Zeichen der Energie ist, so heißt das nicht, daß ein Mensch mit Doppelkinn doppelt energisch ist.
Und wenn sich einer aufs Kinn spuckt, so ist entweder sein Kinn zu groß oder er versteht das Spucken schlecht.