Es war eine Zeit, da standen wir jedesmal im Wandern auf der Straße bei Dalheim still, zeigten nach Südwesten und redeten uns ein, wir könnten am Horizont die Kathedrale von Metz sehen. Damals gingen in Metz noch Soldaten mit roten Hosen herum, der Horizont war für uns Frankreich, und wenn wir Kinder hinter Aspelt der langen Mauer von Schloß Preisch ansichtig wurden, überliefen uns Schauer der Ehrfurcht bei dem Gedanken, daß dort schon die große Fremde anfing, daß hinter dieser Mauer die unendlichen Wunder der Welt lagen, die nicht unsere Welt war, und in der Paris die sprühende Sonne war.
Alle, die damals Kinder waren, erleben jetzt eine märchenhaft seltsame Auferstehung längst verklungener Tage. Als Lothringen deutsch geworden war, hatte sich darüber ein Schatten gelagert, der bis an und über unsere Grenze reichte. Wir fühlten mit den Nachbarn, daß ein Zwang über sie gekommen war, der ihre Seelen aus alten Bahnen drängen wollte, und jeder Zwang ist unfroh. Im freudigen Blauweißrot des französischen Grenzpostens zwischen Frisingen und Evringen war das Blau durch Schwarz ersetzt worden, die jungen Bauern der Dörfer mußten in Kommißstiebeln statt in Godillots ihre Kasernenjahre abdienen, aber in den Herzen war wenig oder nichts geändert. Das Leben ging im selben Schwung und im selben Geleise weiter, in den Kirchen wurde der Gottesdienst im französischen Stil gefeiert, der Herr Lehrer ging im weißen Chorhemd, und des Sonntags in der Messe trug ein junges Mädchen einen Korb mit weißem Bäckerbrot herum, das man sich umso besser schmecken ließ, je länger der Morgenkaffee schon hinter einem lag. Und die Herren Pfarrer radebrechten über der Predigt das Deutsche, daß die Gemeinde ihre Lust daran hatte. Wenn wir auf dem Rad durch Suftgen fuhren, sahen wir durch die gelbe Kalktünche des Schulhauses das alte Maison d’Ecole aus der französischen Zeit immer deutlicher durchschimmern. In Frisingen sagten sie für den Bürgermeister immer noch Mä-er und für die Postkutsche Courjé, und sie erzählten rühmend aus der Zeit, wo an großen Tagen die paar alten Napoleonsdiener ins Hochamt ihre Gala-Uniform anzogen, und wo noch die „Amplaje’erten“, die Zollbeamten, im Dorf und die ganze Grenze entlang lagen, bis nach Dalheim, wo sich in den sechziger Jahren ein Grenzer mit seinem Dienstgewehr in dem Ziergärtchen am Dalheimer Adler erschossen hatte. Ich weiß noch heute, wie stolz ich war, wenn ich als Sechs- oder Siebenjähriger beim Strolchen durch die Wiesen einen Grünrock traf, der mich keuchend seine Flinte eine Weile tragen ließ und mir ein paar rotkupferne Zündhütchen schenkte, die wir Buben dann mit zugekniffenen Augen auf einem Stein „losließen.“
Und auf einmal ist, nach fünfzig Jahren, alles wieder geworden, wie damals. Die Kathedrale von Metz, und die Berge im Südwesten, und die Preischer Mauer und der Evringer Kirchturm, sie alle liegen wieder in Frankreich, und die „Amplaje’erten“ liegen wieder in Frisingen, und im Garten am Dalheimer Adler sieht man noch immer den Kastanienbaum, dem der lebensmüde Grenzer damals die Krone abgeschossen hatte. Und die Buben sind immer noch erst froh mit den Zündhütehen und dann mit den Mädchen, in der Evringer Kirche essen sie Sonntags hoffentlich immer noch ein Stückchen Weißbrot, und meinen alten Schulkumpanen in Frisingen, den Bampes und Nicki und Victor und wie sie heißen, geht es hoffentlich immer noch gut.