In «A Tale of two cities» beklagt sich Dickens in bewegten Worten darüber, daß der Mensch für den Menschen ein so undurchdringliches Geheimnis ist. Er philosophiert darüber, daß in einer großen Stadt, in der er nachts ankommt, jedes Haus, jeder Raum, jedes Herz sein Geheimnis birgt und vor den andern verwahrt. Damit hängt sogar in gewissem Maß der Schrecken des Todes zusammen. Denn der Tod verewigt das Geheimnis des Lebens. „Mein Freund ist tot, mein Nachbar ist tot, die Geliebte meiner Seele ist tot. Das ist die unerbittliche Bestätigung und Verewigung des Geheimnisses, das immer in jenen Wesen beschlossen lag und das ich in mir bis zum Ende meines Lebens tragen werde. Liegt auf irgend einer Begräbnisstätte der Stadt, durch die mein Weg führt, ein Schläfer, der unergründlicher wäre, als es ihre geschäftigen Einwohner in ihrer innersten Persönlichkeit für mich sind oder ich es für sie bin?“
Irgendwo in einer Stifter'schen Erzählung wird derselbe Gedanke ausgeführt, ebenfalls mit schmerzlichem Bedauern darüber, daß es den Menschen nicht vergönnt ist, in den Seelen ihrer Mitmenschen wie in einem Buch zu lesen.
Ich glaube, Dickens und Stifter und die vielen andern, die ihrer Meinung sind, haben unrecht. Es verhält sich damit, wie mit der Zukunft. Jeder möchte in die Zukunft sehen, wie in ein Theaterprogramm, wissen, was jetzt kommt, wer die Rollen spielt, wie es zum Schluß ausgeht. Und es ist doch schon zur Genüge nachgewiesen, was für Unheil über die Welt käme, wenn die Zukunft für die Menschen kein Geheimnis mehr hätte.
Dies Unheil wäre aber Kinderspiel gegen die Schrecken, die der Menschheit daraus erwüchsen, daß jeder in jedes andern Seele lesen könnte, daß einem jeden Sekunde für Sekunde seine geheimsten Gedanken, Wünsche, Gefühle auf der Stirn geschrieben stünden. Wenn der Freund beim Handschlag mit dem Freund in dessen Antlitz läse: „Du, dich werde ich schön hinters Licht führen“ - oder der Bräutigam in den Zügen der Braut, wenn er mit ihr die Ringe am Altar wechselt: „Ich hasse dich, aber ich will versorgt sein. Bald wird ein andrer in dem Wagen fahren, den du bezahlst.“
Es kommt schon Streit und Neid genug in die Welt von allerlei unnützen Worten, die geredet und geschrieben werden. Kämen dazu alle, die heute nur gedacht werden, so würde das Leben in Mord und Totschlag ausarten. Dutzende von Leuten grüßen mich täglich und werden von mir gegrüßt, oder wir kennen uns, ohne auf Grußfuß zu stehen. Was glauben Sie wohl, was aus manchen Freundschaften würde, wenn wir immer wüßten, was beim Vorbeigehen einer vom andern denkt! Wo hätte dann die Wahrheit noch ein Eckchen, dahin sie sich flüchten könnte?
Und welche wunderbaren Wirkungen entgingen den Romanschreibern und Dramendichtern! Welche Tränenströme sind schon darüber geflossen, daß der oder die A den oder die B immer für einen Feind und eine Feindin, für ein liebloses Geschöpf usw. gehalten hat und plötzlich bei einem Knalleffekt wie durch ein Fensterchen in das Innere des andern sieht und ausschluchzend sein eigenes Bild mit Kerzen und Blumen umkränzt auf dem Altar der Liebe erblickt!
Lassen wir jeder Seele ihr Geheimnis und verlegen wir uns lieber auf die Menschenkenntnis. Aber seien wir vorsichtig. Es gibt zwei Schulen. Die einen sagen, du sollst jeden Menschen für ehrlich, die andern, du sollst jeden für einen Spitzbuben halten, bis dir das Gegenteil bewiesen wird. Das hängt davon ab, ob man selbst einen Hang mehr zur Ehrlichkeit oder zur Spitzbüberei hat. Der Haken ist, daß sich die meisten über „den Beweis“ nicht recht im Klaren sind und manchmal schwarz glauben, wenn man ihnen weiß bewiesen hat.