Original

25. März 1922

Es klänge unglaublich, wenn es z. B. in Luxemburg passiert wäre.

Aber es ist natürlich nicht in Luxemburg passiert, sondern in der Stadt Abdera, die wegen der Einfältigkeit und Beschränktheit ihrer Einwohner schon im Altertum berühmt war.

Ein kunstsinniger Bürger von Abdera hatte sich im Ausland, in einer Stadt, wo viele Maler lebten, eine Anzahl Bilder gekauft: Landschaften, Historienbilder, Aktstudien, Stilleben usw. Die griechische Valuta stand so günstig, daß die Bilder den Käufer nur ein paar Drachmen kosteten und er für einen Pappenstiel sein ganzes Haus mit Bilderschmuck ausstaffieren konnte.

Als die Bilderkiste im Zollamt von Abdera geöffnet wurde, kamen die Beamten, um sich die Gemälde anzusehen und zu prüfen, ob außer diesen keine zollpflichtigen Waren beigepackt waren. Denn die Bilder waren zollsrei, man hätte sie höchstens als Leinwand oder als Olfarbe taxieren können.

Alles ging soweit gut.

Aber auf einmal stieß ein älterer Zollbeamte einen Schrei des Entsetzens aus. Die Pfeife war ihm aus dem Mund gefallen. Er hatte eine der Aktstudien, auf der eine Frau „netto“ dargestellt war, mit spitzen Fingern hoch gehoben, hielt sie weit von sich ab und kleidete seinen Abscheu in die Worte: „Dies ist ein unsittliches Bild!“

Andere kamen hinzu, be-hmten den Fall, meinten, die Unsittlichkeit stehe fest und es sei doch unglaublich usw., und so sehe doch kein Frauenzimmer aus, die Künstler malten solche Formen offenbar nur, um beim Beschauer lüsterne Gedanken und Empfindungen zu erregen usw.

Der am meisten entrüstete Zöllner rief seinen Chef und fragte, was da zu tun sei. Die Zollverwaltung sei offenbar nicht da, um eine Überschwemmung des Landes mit solch immoralischen Erzeugnissen zu begünstigen. Der Chef sagte, sie sollten ihm seine Ruhe lassen.

Der am meisten entrüstete Zöllner telephonierte hierauf an die Polizei, die im Lausschritt drei Mann hoch eintraf und das Bild ebenfalls derart gefährlich unsittlich fand, daß sie es beschlagnahmte und mit fortnahm.

Wenn dergleichen in Luxemburg passierte, so würde erstens der Chef seinem Untergebenen sagen, daß ihn der Grad der Sittlichkeit oder Unsittlichkeit eines importierten Produktes nichts angeht, der am meisten entrüstete Zollbeamte würde gar nicht erst an die Polizei telephonieren, und wenn sie dennoch käme, so würde er ihr sagen: Meine Herren, das geht Sie einen Fladen an, dies ist Privatbesitz, um den Sie und wir uns nicht zu kümmern haben, denn sonst könnten Sie jedem Privatmann in seinem Haus alle Bilder mit nackten Frauengestalten von der Wand weg beschlagnahmen. Außerdem ist dies Bild nicht schlimmer, als andere, die im Pescatore-Museum hängen und alljährlich im Salon des Kunstvereins ausgestellt werden!

So würde die Sache erledigt, wenn sie in Luxemburg passierte.

Aber sie ist, wie gesagt, nicht in Luxemburg, sondern in Abdera passiert.

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