Original

28. März 1922

Stellen Sie sich bitte vor, Sie haben Schnupfen, Husten, können vor Heiserkeit keinen Ton reden, haben dazu einen Hexenschuß, einen Zahn, der „grommelt“ - Sie wissen nur nicht, welcher es ist - draußen treibt unter grauem Himmel ein trockner Nordost dünnen Graupelschnee gegen die Häuser - und in all diese Herrlichkeit hinein bringt Ihnen der Briefträger eine Postkarte aus Positano, und darauf schreibt Ihnen Ihr Freund Franz Seimetz, daß er im Golf von Salerno, zwischen Fels und Meer, in dem allen Malern bekannten Positano vor Anker gegangen ist!.

Wissen Sie, was ich getan habe? Ich habe meinen Baedeker hergeholt und sofort Positano aufgesucht. Da liegt es. Die kleinen, schwarzen Pünktchen, die die Häuser darstellen, rollen den Abhang herunter bis ans blaue Meer. Die Schlange, die sich hindurch windet, ist die Straße von Amalfi nach Sorrent.

Amalfi, Sorrent! Sagen Sie das dreimal nacheinander, und Sie meinen, Sie trinken ein Glas Marsala, oder Chianti, oder Falerner, oder noch was Besseres. Die Straße führt durch Felssprengungen und über Galerien an der prächtigen Küste entlang, sagt Baedeker. Und der Golso di Salerno tut sich in weitem Bogen nach Süden auf, und mitten im Bogen liegt Positano, und hinter ihm türmen sich die Berge hoch und lassen keinen Nordwind mit Graupelschnee an das glückliche Städtchen heran.

Wo nehmt Ihr eigentlich Eure Mahlzeiten, Franz? Im Gasthaus Margherita oder Roma (Pension mit Wein 6-8 Fr.; mein Baedeker ist allerdings schon alt.) Und wie heißt heute das deutsche Gasthaus Germania von damals? Wart Ihr schon oben im Ristorante dei due Golfi, von wo der Hinabweg nach Meta durch üppige Orangenund Limonenpflanzungen so schön sein soll? Und was sieht man alles von diesem höchsten Punkt aus?

Jetzt bin ich einmal dort, jetzt wird gleich die ganze Reise durch Italien von Neapel bis Mailand noch einmal gemacht. Adieu Franz, wie fahren nach Castellamare - wie das klingt! -, wir fahren nach Capri, wir fahren nach Neapel, durchschwärmen hoch überm Golf eine Sommernacht während der Vesuv zuweilen den Himmel voll roter Träume träumt, während sie drüben von den beiden Torre über Camaldoli weg sich mit lärmendem Feuerwerk anbombardieren, wir fahren nach Pompeji, nach Rom, und Venedig, und Florenz - auf meine Karte von Florenz hat mir damals grade Sander Pierron im Melini aufgeschrieben, was man unbedingt sehen muß -, und Mailand und Turin, alle süßen Namen sind wie Glocken, die auf einmal leise aufklingen. ...

Jetzt steck ich meinen Baedeker wieder in den Bücherschrank und schlage mir Positano aus dem Kopf. Übrigens, es ist draußen schon wieder freundlicher geworden, ich glaube, der Wind hat sich gedreht. Der Graupelschnee ist geschmolzen. Und die Kirsch- bäume strecken ihre dick geschwollenen Knöspchen gegen das Fenster, wie Kinder, die in jedem Fäustchen etwas versteckt haben und Dich raten lassen, was es ist.

Noch ein paar Wochen, und die Fäustchen tun sich auf, und der ganze Garten wird von Bienen summen - und ich werde nicht mehr mit Dir tauschen wollen, mein lieber Franz, trotz Positano und Madonna del Lauro und Castellamare und trotz Neapel mit seinen Flöhen und Venedig mit seinen faden Kanalgerüchen und Florenz mit seinen plattfüßigen Mädchen und Frauen und trotz der ganzen Fremde mit alle ihren Schönheiten.

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KatalognummerBW-AK-010-2123