Man muß unter allen Umständen die Wahrheit sagen, was auch daraus entstehe!
Diesen stolzen Ausspruch tat am Mittwoch Herr Dr. Welter in der luxemburger Kammer.
Ein Mann, namens Pilatus, antwortete darauf aus dem Abgrund der Zeiten:
„Was ist Wahrheit?“
Der Dichter eines deutschen Studentenliedes, das die Burschenfreiheit verherrlicht, hat sich viel vorsichtiger ausgedrückt:
„Wer die Wahrheit kennet und saget sie nicht, der ist fürwahr ein erbärmlicher Wicht!“
Also erst muß man die Wahrheit kennen. Und dann muß man sich weiter fragen, ob die Wahrheit, die man kennt, auch wirklich die Wahrheit ist für jedermann, nicht ein subjektives Dafürhalten, das man sich zu seinem Hausgebrauch ergrübelt hat.
Und ist man dann ganz sicher, im Besitz der Wahrheit zu sein, so soll man ernst mit sich zu Rate gehen, ob man mit ihrer Verkündigung nicht mehr Schaden als Nutzen stiften wird.
Es ist etwas Wunderbares um das Radium, aber es sind schon viele dadurch unheilbar wund und krank geworden.
Die Wahrheitsager um jeden Preis sind im besten Fall gefährliche Menschen. Sie gehören zu denen, die jeden Satz mit Ich anfangen. Sie meinen, wenn sie ihr Ei gelegt haben, sei alles gut.
Ein Arzt, der zu dieser Kategorie gehörte, sagte eines Tages einem Patienten auf den Kopf zu, er sei verloren, er leide an fortgeschrittenem Krebs.
Der Patient schoß sich eine Kugel in den Kopf. Die Obduktion förderte statt Cancer ein gutartiges Geschwür zutage. Aber der Arzt hatte die Genugtuung, die Wahrheit gesagt zu haben, das, was er für die Wahrheit hielt.
Die Wahrheit läßt sich mit jedem Genußmittel vergleichen. Zum Beispiel mit dem Wein. In vino veritas. Wer geschmierten Wein verkauft, ist entweder ein Dummkopf, oder ein schlechter Kerl. Entweder weiß er, daß sein Wein geschmiert ist und verkauft ihn dennoch als rein - so ist er ein schlechter Kerl. Oder er hat sich geschmierten Wein hingelegt, der ihm für naturrein verkauft wurde, und dann ist er ein Dummkopf, der die Finger vom Weinhandel lassen sollte.
Wer eine Unwahrheit als Wahrheit verbreitet, gehört gleicherweise in eine dieser beiden Kategorien. Entweder er weiß, daß er eine Lüge sagt, dann ist er ein Lump, oder er glaubt, die Wahrheit zu sagen, dann gehört er in eine der Rubriken, die vom Schwätzer bis zum Mondkalb reichen.
Sie sehen, mit der Wahrheit ist das keine so einfache Sache. Das ergibt sich schon aus folgender Geschichte, die nach nichts aussieht, aber eine sehr tiefe Moral enthält. Sie beweist, daß jemand die Wahrheit gesagt und doch gelogen haben kann. Ich entnehme sie einem Buch „Schmonzes Verjonzes, von Chaim Jossel, Verlag Hermann Seemann Nachfolger, Berlin.“
„Jankel Chuzpedik trifft seinen Freund Nathan Bandwurm auf der Bahn. „Wohin, Nathan?“
„Nach Kalisch!“
„Nach Kalisch? Du Chochem! Wenn de sagst, de fährst nach Kalisch, fährste doch nach Warschau! De sagst aber bloß, de fährst nach Kalisch, as ich soll mer einreden, de fährst nach Warschau! In Werklichkeit fährste doch aber nach Kalisch, also worum lügste??“