In der letzten Sitzung des städtischen Gemeinderates beriesen sich zwei Mitglieder der Minorität auf die öffentliche Meinung, um ihre Stellungnahme in einer Frage zu begründen.
Die öffentliche Meinung zeichnet sich dadurch aus, daß sie nicht öffentlich ist.
Wenn ich hier meine Meinung sage, so wird sie damit öffentlich, aber sie ist nicht die öffentliche Meinung.
Die öffentliche Meinung ist die, die zumeist nicht in die Zeitung kommt. Sehr oft, weil sie - vor der öffentlichen Meinung nicht standhalten würde.
Die HH. Thill und Jacoby fanden die Bezüge des Schöffenrates zu hoch, weil die öffentliche Meinung sie zu hoch findet, sagten sie.
Wenn die beiden Herren hätten sagen sollen, wer für sie diese öffentliche Meinung namentlich verkörperte, so hätten sie wahrscheinlich und mit Recht gesagt: Nomina sunt odiosa. Von den vielen oder wenigen, die unter vier Augen oder beim Bierglas meinen, das sei doch „ein wenig viel“, möchte keiner mit seinem Namen dafür öffentlich einstehen, denn er könnte seine Meinung nicht beweisen.
Schließlich wäre also die öffentliche Meinung in solchen Fällen die Meinung von Leuten, die sie am liebsten geheim halten.
Wenn man nun bedenkt, daß hundert Kartoffeln zusammen noch keine Trüffel ausmachen, und daß der Irrtum eines Einzelnen noch nicht zur Wahrheit wird, wenn ihn zwanzig, fünfzig oder sogar hundert wiederholen, so wird man inne, daß es mit dem Wert der öffentlichen Meinung oft nicht weit her ist. Am wenigsten weit her, wenn sich die öffentliche Meinung in Angelegenheiten persönlichen Charakters verbeißt.
Manchmal trifft sie das Richtige. Dann handelt es sich meist um Angelegenheiten allgemeinen Interesses, für die sich die besseren Köpfe erwärmen, die dann dem Urteil der Masse seine Richtung geben. Aber diese sind nicht enggerippt genug, um sich für kleinliche Fragen zu interessieren, und so bemächtigen sich dieser Frage die Politiker dritter und vierter Güte und machen dafür eine öffentliche Meinung besonderer Art zurecht. Diese ist eine Meinung, aber kein Urteil. Sie hat Wörter, aber keine Normen, sie hat Gefühl, aber keinen Verstand.
Ich bin sicher, wenn heute die Mitglieder des städtischen Schöffenrates je 10 000 Fr. jährlich bezahlten für die Ehre und das Vergnügen, täglich stundenlang die Geschäfte der Stadt zu besorgen und ihre eigenen zu vernachlässigen und dabei manchmal von allerhand Querulanten um ihre kostbare Zeit betrogen zu werden, so würde sich immer noch eine öffentliche Meinung finden, die behaupten würde, das sei nicht genug, die Herren müßten wenigstens 15 000 Fr. bezahlen. Das Bedürfnis zu feilschen ist bei dem Mann des Volkes umso stärker, je weniger er den Wert einer Ware zu beurteilen versteht.
Wer im öffentlichen Leben steht, soll selber seine Meinung haben und suchen, darnach die öffentliche Meinung zu modeln.
Darin verrät sich die innere Kraft des Individuums.
„Ihr seid das Salz der Erdel“ sagte Christus zu seinen Jüngern. Er meinte damit, daß ihr Geist die Menschheit durchdringen sollte, wie Salz die Speise. Daß also sie sozusagen die öffentliche Meinung machen sollten.
Die Politiker scheinen das umgekehrte Verfahren vorzuziehen.