Herr Photograph Hansen aus Mersch war so freundlich, mir einige Photographien zu schicken, die er von einem seltenen Naturphänomen aufgenommen hat.
„Es handelt sich - schreibt er - um den WeinStein in der Sauer bei Wasserbillig, oberhalb der Mündung in die Mosel. Dieser Stein kommt nur in ganz trockenen Jahren, wie dem letzten, zum Vorschein.“
Den Namen soll der Stein nach Einigen davon haben, daß sein Erscheinen regelmäßig mit guten Weinjahren zusammen fällt. Andere leiten ihn davon her, daß darauf die Worte eingemeißelt stehen sollen: „Wenn du mich siehst, so wirst du weinen.“
Hat jemand diese Inschrift gesehen? Sie soll tatsächlich irgendwo im Rhein auf dem Schädel einer alten Klippe stehen, die im Volksmund Hungerstein heißt. Davon wird man in Wasserbillig gehört und die Legende flugs auf den Stein in der Sauer übertragen haben.
Ferner müßte es belegt sein, daß dieser Stein in der Sauer tatsächlich von jeher in dem Ruf stand, ein Prophet und Jahresgenosse guter Weinkreszenzen zu sein. Es scheint mir unwahrscheinlich, daß die Winzer an Mosel und Sauer schon in alten Zeiten einen Stein als Weinstein bezeichnet hätten, wo jedermann von dem Neuen als Grächen und nicht als Wein spricht. Außerdem ist Weinstein bekanntlich etwas ganz anderes. In meiner Jugend sah man von Zeit zu Zeit Männer ins Dorf kommen, die mit eigens geformten Beilen aus den Fässern den Weinstein heraushackten und abends in kleinen Säckchen die gelbbraunen Kristalle forttrugen. Unter uns Buben gingen die ausschweifendsten Gerüchte darüber um, was man alles mit Weinstein anfangen und herstellen könne. Gibt es das heute noch, bleibt heute der Wein noch so lange in den Fässern, daß er Weinstein ansetzen kann?
Was nun die andere Lesart angeht, wonach der Weinstein in der Sauer seinen Namen vom Weinen der Menschen in trockenen Hungerjahren haben soll, so weise ich sie aus nationalen, philologischen und andern Gründen entrüstet von der Hand. Wenn jener Stein in der Sauer wirklich einen Namen hat, so heißt er „We’istähn“ und nicht Weinstein. Und wenn er nach den Tränen der hungernden Wasserbilliger benannt wäre, so hieße er alles andere eher, als Weinstein, vielleicht „Kreischwak“ oder „Ho’ulstähn“ oder „Hongerfels“, denn ein Wort weinen gibt es in unserm Sprachschatz nicht.
Beim Wasserbilliger Stein hängt also Wein mit Weinen gar nicht zusammen.
Dahingegen erzählt mein Freund Robert gerne eine Geschichte, in der dieser Zusammenhang deutlich zutage tritt. Mikosch steht in Budapest vor einem Delikatessengeschäft und trocknet unablässig die Tränen, die ihm über die Wangen rollen. „Worum weinst du, Mikosch?“ fragt ihn ein Freund. Und Mikosch deutet schluchzend auf eine Flasche, auf deren Etikett steht: Ungarwein!
Wenn Sie den Witz weiter erzählen, sagen Sie bitte nicht Tokayer, statt Ungarwein.