Manchmal gibt der Mai sich Mühe, daß er die Dichter, die ihn besungen haben, nicht heimtückischerweise auf den Esel setzt. Wie klang es noch vor vier Tagen, wenn man sang: „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus!“ Man steckte vor dem kühlen Regen die Nase in den Rockkragen und ging auf dem Trottoir allen losen Plättchen aus dem Weg, damit sie einen nicht bis ans Knie herauf anspritzten. Und die Bäume wußten nicht, sollten sie weiter blühen oder sich mit ihrer Pracht wieder verkriechen.
Und mit einmal hat der Mann an der Wetterschalttafel den Hebel herumgeworfen, jählings, ohne Übergang, ist der Mai der Dichter da und heizt uns ein, daß schon der Gedanke an wollene Unterwämmser und an Überzieher schweißtreibend wirkt. Und es ist ein Schuß Mutwille darin, daß die Bäume ausschlagen - wie junge Füllen, denkt man.
Und wir sind wieder daheim auf unserer Erde. Das müssen Paradieserinnerungen sein, daß wir uns im Winter nirgends heimisch fühlen, daß wir herumgehen wie gejagt, als wollten wir uns selber entfliehen. Wir haben Zugvögelinstinkte. Es treibt in uns etwas zur Flucht, zur Flucht vor Schnupfen, Husten, Grippe, vor kalten Füßen, vor ewig langen Abenden, vor Konferenzrednern, vor allem, was im Schatten gedeiht. Und nun hat der Mai an einem einzigen Tag - es war freilich ein Sonntag - bewiesen, daß er wirklich unsere Seele frisch und frei machen kann, wenn wir nur wollen.
Wir wollen schon, aber wir können leider nicht alle. Wir sollten uns in der Maiensonne von aller Angst befreit fühlen, wie die Vögel im hellen Tag. Denn wir stehen zur Sonne, wie die Vögel, die sich ängstlich ducken, wenn es Nacht wird oder wenn einmal am hellen Tag der Mond die Sonne verfinstert.
Der Mai schaltet das Leben um - sollte es wenigstens umschalten, aus dem Stadtbetrieb in den Landbetrieb. Wenn die Knospen springen und die Saaten sprossen, liegt das Schwergewicht des Lebens da draußen, vor den Städten, weit von den Stuben. Die Stube, das ist die Stadt, die Fabrik, das Kontor, das Büro. Das Land, das sind die weiten Horizonte, die Wälder und Wiesen, Fluß und Tal. Die Stube gehört der gefangenen Seele, die darin grübeln darf, und dem kranken Leib, das Land gehört der freien Seele und ihrem gesunden Leib.
Die Menschheit hat im blinden Jagen nach dem Glück das richtige Verhältnis verschoben, hat ihr Leben zuviel in die Stuben verlegt, um zu erwerben, was sie schließlich doch nicht besitzen kann. Es ist der Typus Mensch entstanden, der das Höchste erwirbt, wonach die Gier der Menschheit trachtet, und der trotzdem nicht glücklich ist. Weil er alle Negungen der Seele kennt, nur die Freude nicht mehr. Die Stube hat ihn auf dem Gewissen.
Komm lieber Mai und mache uns die Seelen wirklich wieder frisch und frei. Bringe die Menschen zur Einsicht, daß es ihnen nichts hilft, wenn sie ihre Städte und Stuben ausbauen und darin auf Haufen hocken und der Natur ihre Geheimnisse abluchsen, um sich gegenseitig rascher und sicherer totschlagen zu können, sobald sie ihr nicht hinter ihr kostbarstes Geheimnis kommen: daß nur sie glücklich macht, und daß uns das Glück nur dann blüht, wenn wir irgendwie zu ihr zurückfinden, nicht als Einzelner, sondern als Gesamtheit.
Solange das aber die Gesamtheit nicht einsiebt, machen sich die Einzelnen, die des Lebens Sinn erfaßt haben, ihr Glück eben auf eigene Faust zurecht.