Original

13. Mai 1922

Es wäre schwarzer Undank, wenn ich nicht ein einzigesmal über die Oktave schriebe. Sie gehört in unser Jahr, wie die Baumblüte, wie das Springen der Knospen, wie irgend ein Elementares, das im Abrollen der Tage, Wochen, Monate naturnotwendig wiederkehrt. Ein Luxemburger kann sich den Frühling so wenig ohne Oktave denken, wie ein Trierer sich den April ohne Weinversteigerungen denken kann. Wir sind mit der Oktave groß gewachsen, wir haben sie als eine Stimmungsquelle im weitesten Sinn, wir haben sie als Verkehrshindernis, wir haben sie als alles Mögliche empfunden, aber wir können sie aus unserm Kalender so wenig hinausdenken, wie die Schobermeß.

Die Fanfare von Grund hat mir heute morgen eine Freude bereitet, für die ich ihr innig danke. Sie hat jenen Prozessionsmarsch gespielt, der mir seit Jahren nachgeht und der in seinen ersten Takten gleich klingt mit der Pathetica. Er sang in mir den ganzen Vormittag nach, klang durch die Reden, die sie in der Kammer über die Einkommensteuer, über die Finanzlage, über die Taxatorenräte, über den Katastralertrag, über die Wahlpropaganda und andere schöne Sachen hielten. Ta-ta-taaa, tata tata tatah! Die Kommunionsmädchen fegten mit ihren langen weißen Kleidern über das Pflaster und ihre Mütter sahen ihnen stolz und bekümmert zu, Leute, mit denen man sonst beim Bier in fideler Stimmung zusammensitzt, trugen würdevoll ihren Bratenrock voran, und längst begrabene Menschen stiegen aus ihren Gräbern und fluteten beim Tor des Gasthofs zum Goldnen Anker aus und ein, begrüßten sich mit Frohlocken und fragten, wo denn unser Klees und unsre Mraikätt sei.

Und draußen wütet jetzt eine Blechmusik vorbei und bläst so falsch, daß die ganze Oktav-Träumerei, in die ich mich wollte hineingleiten lassen, zu Essig wird.

Da soll ein andrer über Oktavstimmung schreiben!

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KatalognummerBW-AK-010-2150