Ein Junger - Alfred Höfler - bespricht in der letzten Nummer der Voix des Jeunes die neue Auflage von Nikolaus Welters „Über den Kämpfen“.
Er beginnt mit der Feststellung: „Wir Luxemburger werden nie zum reinen Ausdruck lyrischer Kunst gelangen.“
Er glaubt, das liege an unserm „psychischen Dualismus, der uns nie zur Einheit, zum Zusammenschweißen unserer selbst kommen läßt.“
Ich glaube, der Fall liegt noch viel einfacher und trostloser. Wir haben bis jetzt keinen Lyriker deutscher Sprache, der sich in Deutschland Geltung verschaffen kann, weil wir keinen haben, der deutsch schreiben kann.
Lyrik ist unmittelbares Überfließen der Empfindung in den Ausdruck. Das beding, daß der Lyriker unmittelbar in der Sprache empfindet, in der er sich ausdrückt, daß er sie nicht zu vergewaltigen braucht, bis sie zum Widerhall seiner Seele wird.
Ein solcher Lyriker war Nikolaus Welter nie. Seine Empfindung machte bis zum Wort immer den Umweg über die Reminiszenz, über das Buch: Über Faust, über Amaranth über Rudolf Baumbach, über Richard Dehmel - alle diese Einflüsse und noch viele andere sind bei ihm schichtenweise aufzuzeigen. Wo er Nikolaus Welter ist, da wird aus seiner Sprache ein Gebilde, das allerdings ganz besonderer Art, aber kein Deutsch mehr ist. Wenigstens kein Deutsch, wie es Deutsche schreiben würden. Seine Originalität knirscht unter den Zähnen, wie Sand. Nehmen Sie z. B. das Gedicht: Am Hunnenborn: „Wieder auf verwachsenen Wegen strebt zu dir mein Wanderfuß. Aus dem Grund tönt mir entgegen Dein entbehrter Rauschegruß.“
Wanderfuß ist eine entsetzliche Neubildung. Ich hoffe für Welter, daß sie nicht von ihm ist. Man hat Klumpfuß, Plattfuß, Schweißfuß - dazu gesellt sich nun der Wanderfuß. Und damit er sich ganz besonders aufdränge, tritt er in stark betonter Wechselbeziehung zum Rauschegruß auf, der obendrein entbehrt ist. Der Hunnenborn hat außerdem einen „Glanzsaum seiner Kraft“ aufzuweisen. Was ist das?
Auf Schritt und Tritt stößt sich das normale Sprachgefühl an ähnliche Abnormitäten, an Stellen, die zum Aufschreien geschmacklos sind. „Viel von Unrast umgetrieben durch der Welt Fastnachtsgewühl, Bin ich mir doch treu geblieben so im Ziel wie im Gefühl.“ Oder: „Da schreit mein Herz, als würden sich mir ein Dutzend Speere Im tiefsten Leibe drehn.“ Oder: „Der Sensenschwung des Todes rändert die Welt.“ Man lernt einen schwarzen Aar kennen, der „den Fittich entrollt“ (Was nützt mir der Fittich, wenn er nicht entrollt ist?) und hören von etwas, das bei Welter „Die Donnerhand der Geschütze“ heißt. Er findet: „Wir leben
Wie auf einem ebenerst aufgetauchten Eilandim australischen MeerabgeschnittenVon jedem Binnenverkehr,von allem Weltgeschehen.“Die Erde singt an die Gefallenen ein Schlummerlied:
„In euerm Hirn, euerm Blut, euerm Knochenmehl spür ich schonDas doppeltnährstarke Korn, den doppeltglühenden Mohn.Susu susu! Süß ist die Ruh.“Von einigen Ausnahmen abgesehen ist in dem Buch stofflich nur gereimte - und ungereimte - Reportage und Leitartikelprosa, neben billigen Balladenvorwürfen.
Das mußte nach all der Kritiklosigkeit, mit der die Welterschen Erzeugnisse hier hingenommen werden, endlich einmal gesagt werden. Es ist hart, aber wahr.
Zum Lyriker gehört eben auch Geschmack und Bildung, gehört allerlei, was man nicht aus Büchern lernen kann und was Nikolaus Welter nie gelernt hat.
Es liegt eine direkte Gefahr für unsere Sprachkultur darin, daß derartige Erzeugnisse unbestritten als vorbildlich gewertet werden und deshalb zur Nachahmung anreizen.