Original

24. Mai 1922

Irgendwo im Ösling, an einem kühlen Plauderbach, steht ein altrenommiertes Gasthaus. Es hat nicht nur eine Wirtin, sondern zwei, aber sie sehen sich so ähnlich, daß mancher neue Gast meint, es sei nur eine und immer dieselbe. Bis auf einmal beide mit einander durch verschiedene Türen hereinkommen.

Doch das ist eine andre Geschichte, sagt Rudyard Kipling.

In dem kühlen Plauderbach sind Forellen. Man sollte es nicht sagen, wenn man von morgens bis mittags in der glühenden Sonnenhitze seine Fliegenangel geschwungen und nicht einen Forellenschwanz gesehen hat.

„Bei Ostwind hab ich noch nie Forellen gefangen!“ hatte morgens ein alter, routinierter Fischer mir versichert. Und so war ich getröstet und ließ mir das Mittagessen bei den weiblichen Menächmen vorzüglich schmecken.

Doch das ist eine andre Geschichte.

Nach dem schwarzen Kaffee rauchte ich eine Pfeife auf dem Sofa. Ich schlief dabei natürlich ein. Und ich hatte einen bösen Traum.

Ich saß in der Kammer, und Herr Franz Erpelding meldete sich zum Wort. Ich erschrak zu Tode. Denn ich sah auf einmal, daß ich weder Papier noch Bleistift zur Hand hatte. Ich zog aus der Tasche ein altes Briefkuvert, brannte ein Streichholz an, ließ das flammende Ende verkohlen und begann, mit der verkohlten Spitze auf das alte Briefkuvert zu schreiben. Bei jedem Strich riß die Spitze ein Loch in das mürbe Papier, ich machte dem Saaldiener Schammel verzweifelte Zeichen, daß er mir Papier und Bleistift bringen sollte, aber er bewegte sich nicht von seiner Stelle an der Saalwand, er nickte mir freundlich zu, und je verzweifelter ich winkte, desto freundlicher nickte er. Schließlich begriff er und knipste den großen Kronleuchter an.

Der Angstschweiß rann mir von der Stirn, vom Kinn, hinter den Ohren den Nacken herunter, die Wirbelsäule, die Schienbeine entlang. Und Herr Erpelding redete immer weiter. Seine Stimme dröhnte durch das Haus. Der „kleine Mann“ wurde in seinem Munde so groß, daß er das ganze Land, die ganze Welt ausfüllte, er richtete sein Augenmerk so stark, daß die Wände davor barsten, er redete und redete - und ich schwitzte und schwitzte .....

Als ich erwacht war, redete Herr Franz Erpelding noch immer weiter. Er hatte im Gastzimmer nebenan eine Wahlversammlung. Und ich hörte ihm zu mit einem Genuß, wie ich ihn noch nie in meinem Leben bei einer politischen Rede empfunden hatte.

Denn es war die erste Rede, die ich von Franz Erpelding hörte und die ich nicht nachzuschreiben brauchte.

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KatalognummerBW-AK-010-2159