27. Mai 1922

Ein Globe-Trotter erzählte mir kürzlich von einem Festessen bei einem vornehmen Chinesen. Ihm zu Ehren standen die seltensten Gerichte auf dem Menü, und das seltenste waren Eier, gewöhnliche Hühnereier, die 25 Jahre alt waren. Das Datum stand darauf. Bei den Eiern sind alle Jahrgänge gleich gut. Es war also nicht der Jahrgang, der dem Ei seinen Adel verlieh, sondern das Alter schlechthin.

Ob die alten Eier uns Europäern gut oder nicht gut schmecken, ist hier Nebensache. Es kommt darauf an, daß sie von den Chinesen für eine Delikatesse gehalten werden.

Ein Ei, das nicht mehr frisch ist, gilt uns und wahrscheinlich auch den Chinesen als faul und wird wohl nirgends in der Welt als Delikatesse verabreicht.

Ist es aber 25 Jahre alt, lecken sich die Chinesen die Finger darnach.

Merke: Ein frisches Ei ist köstlich, ein faules Ei gehört auf den Mist, ein altes Ei ist ein Leckerbissen.

Haben wir nicht denselben Fall beim Wein? Er ist als Heuriger frisch und süffig, dann fällt er manchmal ab und die Zecher lassen ihn links liegen, aber wenn er die richtige Zeit im Keller lag, wird er wieder edel und stark und blumig, und wenn ihn der Besitzer seinen Freunden nicht zu trinken gibt, so ist das ein Zeichen, daß er ihn selber trinkt.

Diese zwei Beispiele fielen mir ein, als ich gestern lange in alten und neuen Briefen kramte.

Briefe sind wie Wein und chinesische Eier. Wenn man sie empfängt, sind sie interessant und man freut sich darüber. Dann werden sie einem gleichgültig, zuweilen langweilig. Sie geraten tief unten in die Schublade. Bis man einmal einen freien Nachmittag darauf verwendet, in Erinnerungen zu kramen. Und siehe da: Briefe, die einem wertlos waren, sind auf einmal zu Köstlichkeiten geworden, strömen einen Duft aus, sind unschätzbare Zeugen von Zeiten und Stimmungen, die einem teuer waren.

Und wir Menschen?

Uns ist es nicht gegeben, diese drei Perioden durchzumachen, wie der Wein, die Briefe und die chinesischen Eier.

Aber unsere Werke kennen den Erfolg der ersten Frische, kennen das Verfinken der zweiten Periode.

Ob sie die Auferstehung der dritten erleben?