Original

28. Mai 1922

Gestern wurde in der Heilanstalt Ettelbrück ein Mann eingeliefert, der an einer höchst merkwürdigen Form von Geistesgestörtheit litt. Seine Frau und sein Schwager, die ihn begleiteten, erzählten Herrn Dr. Büffet, der Kranke sei bis vor 24 Stunden vollkommen normal gewesen. Plötzlich sei es wie ein Blitzschlag über ihn gekommen. Er habe vor sich hingestarrt und in einem fort die Worte: „Eintreten ...... Interesse“ vor sich hingemurmelt.

Der Ärmste saß mit seinen Begleitern im Empfangszimmer, der Herr Direktor redete ihm gütlich zu und fragte, wie es ihm denn gehe.

„Interesse ...... eintreten“, sagte der Kranke.

„Hm hm!“ Herr Dr. Büffet schüttelte den Kopf und begann, die Verwandten über die Verhältnisse des Patienten auszufragen.

Er erfuhr, daß dieser aus einer körperlich und geistig kerngesunden Bauernfamilie stammte. Ein Großonkel war Minister gewesen, ein anderer hatte ein hohes kirchliches Amt bekleidet, zahlreiche Verwandte. waren in freien Berufen, andere in der Landwirtschaft tätig, ein Fall von Geistesstörung war in der Familie nie vorgekommen. Der Mann war weder Trinker noch hatte er durch ausschweifenden Lebenswandel seinen Organismus geschwächt. Als der Arzt auf die Möglichkeit einer Ansteckung besonderer Art anspielte, sahen sich Frau und Schwager wehmütig lächelnd an. Nein, so einer war er nie gewesen. Sie konnte die Hand dafür ins Feuer legen, daß er nie ein anderes Weib, als seine eheliche Gattin, erkannt hatte.

Wie er denn die letzte Zeit über sich gehabt habe, ob er sich nicht durch ein besonderes Benehmen auffällig gemacht habe.

„Nein,“ sagte die Frau. „Er stand morgens um halb acht auf, wie immer, trank seinen Kaffee mit Butterbrot und Kochkäse, holte am Briefkasten seine Korrespondenz, las die Zeitung und ging ins Geschäft.“

„So so. Die Zeitung. Welche Zeitung?“

„Alle Zeitungen.“

„Erzählen Sie bitte weiter.“

„Das ist eigentlich alles, was ich weiß.“

„Und die letzte Zeit?“

„Die letzte Zeit dauerte es etwas länger, zuletzt sehr lang, manchmal bis in den Nachmittag hinein.“

„Warum?“

„Weil morgens der Briefkasten gestopft voll Zeitungen stak.“

Herr Dr. Büffet schlug die Hände überm Kopf zusammen.

„Was! Unselige! Ihr Mann hat die ganze Wahlliteratur der letzten Woche gelesen?“

„Ja!“ schluchzte die Ärmste.

„Na, dann wundern Sie sich nicht, wenn er verrückt geworden ist. ... Kommen Sie.“

Und er führte die Frau und den Schwager in die Abteilung der ruhigen Irren, öffnete eine Tür und zeigte auf sechs junge Männer, die neben einander auf einer Bank saßen, die Daumen umeinander drehten und dazu in einem fort murmelten: „Interessen ....... eintreten.“

„Sehen Sie,“ sagte der freundliche Herr Direktor, „von diesen jungen Leuten hat ein jeder nur den sechsten Teil von dem geschrieben, was Ihr Mann gelesen hat.“

„Ach Gott ach Gott!“ stöhnte die arme Frau und rang verzweifelt die Hände. „Und ist keine Heilung möglich?“

„Doch!“ beruhigte sie gütig Herr Dr. Büffet. „Bei strengem Regime garantiere ich für Heilung in vierzehn Tagen. Aber Ihr Mann darf so lange keinen Menschen hören, der ihm versichert, er werde für seine Interessen eintreten, und er darf nur Witzblätter lesen.“

„Welches empfehlen Sie besonders?“

„Die „Luxemburger Frau“.“

Näheres konnte ich über den Fall nicht in Erfahrung bringen. Ich werde mich indes über den weiteren Verlauf bei Herrn Dr. Büffet erkundigen.

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    Katalognummer BW-AK-010-2162