Original

30. Mai 1922

Wieder sind wir also einmal zur Wahlurne geschritten.

Der Feierlichkeit des Aktes entsprechend sind die Worte von Feierlichkeit geschwellt.

Schreiten verhält sich zum Gehen, wie eine Ode zu einem Geschäftsbrief. Und Urne erinnert an die in Klassizität erstarrte Antike, oder an die Majestät des Todes.

Und was bietet man uns als Urnen? Viereckige Holzkasten mit einem prosaischen Schlitz. Ein Sinnbild der Politik da, wo sie am langweiligsten ist.

Und wie schreiten wir? Von allen Wählern kenne ich nur einen, der zur Wahlurne wirklich geschritten sein könnte: Walter Colling. Alle andern haben das Gehgeschäft in einer Form abgetan, die vom Schreiten nichts an sich hatte: Vom schüchternen Schleichen des Klausurnönnchens bis zum graziösen Trippeln der jüngsten Wählerin mit Stöckelschuhen, vom elastischen Schritt des sportgewohnten jungen Mannes bis zum schweren Trollen des Zweihundertpfünders - alles war vom Schreiten gleich weit entfernt. Wir Menschen von heute können nur noch schreiten, wenn eine Musik einen Prozessionsmarsch dazu spielt.

Ich mußte wieder einmal, um dem Wahlgeschäft obzuliegen, das Gebiet von Großluxemburg in der Diagonale durchqueren. Ich schimpfte erst über den verlorenen Sonntag. Dann fand ich beim Weiterwandern, daß die Welt eigentlich viel schöner war, als sie an einem solchen Tag zu sein brauchte. Die hellen Damentoiletten machten den letzten schönen Fliederdolden Konkurrenz, der Himmel sah aus, als wüßte er nicht, was Wolken sind, die Männer waren sauber rasiert und entschlossen, den Sonntag zu genießen, die Welt sah aus, wie frischgewaschen.

Da freute ich mich, wieder einmal nach Bonneweg gekommen zu sein. Es ist das Zeichen einer guten Stimmung, wenn man sich freut, irgend wohin zu kommen, wo man lange nicht war. Und ich dachte, es sei am Ende doch nicht so schlecht, wenn bei Gelegenheit der Wahlen die Bevölkerung ein wenig durcheinandergeworfen wird, wenn die Limpertsberger im Bahnhofviertel und die Pfaffentaler im Schatten des Wasserturmes wählen müssen.

Ja, das System ließe sich mit Nutzen verallgemeinern. Wie wäre es, wenn das ganze Land zu einem einzigen Wahlbezirk zusammengelegt würde und bei den Wahlen dann Nord und Süd, Ost und West in einem großzügigen Chassez-croisez durcheinandergesiebt würden? Echternach würde in Martelingen wählen, Grevenmacher in Redingen, Clerf in Remich, Wiltz in Esch, Boxhorn in Lalingen, Hüpperdingen in Schwebsingen, Bögen in Schengen, Schlindermanderscheid in Butscheburg usw.

Wir kennen uns gegenseitig nicht genug. Dann lernten wir uns kennen, wir würden recht ein einig Volk von Brüdern. Ist das nicht ein Ziel des Schweißes der Edeln wert? Und jede Wahl wäre für jedermann mit einem schönen Ausflug verbunden, und in die Politik käme soviel lebendige Poesie, daß wir die tote Poesie des Schreitens und der Urne gerne entbehren könnten.

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    Katalognummer BW-AK-010-2163