Original

31. Mai 1922

Es war eine Hetz gewesen.

Als noch zehn Minuten bis Abgang des Zugs waren, sagte unser Freund: „Jetzt ist es für Euch die höchste Zeit.“ Wir liefen in fünf Minuten die anderthalb Kilometer zum Bahnhof, weil wir nicht wußten, wo die Trambahnhaltestellen waren, wurden an drei Schaltern abgewiesen, weil sie dort keine Karten nach Luxemburg verkauften, langten endlich schweißtriefend auf die Sekunde in unserm Abteil an - natürlich dauerte es noch eine Viertelstunde, bis der Zug fuhr - und hätten, nachdem wir uns einigermaßen von dem Dauerlauf erholt hatten, am liebsten bis nachhaus durchgeschlafen.

Im selben Abteil fuhr ein junger Mann, den ich glühend beneidete. Ich hatte auf seinem Felleisen die Namen von allerhand Hotels aus fernen, überseeischen Städten gelesen. Er war also augenscheinlich ein Polytropos, ein Weitgereister. Und er war noch jung, die Welt war ihm noch überall Verheißung, nirgends Enttäuschung. Auf einem der Koffer klebte ein Zettel mit der Aufschrift: „Hôtel Regis, Mexico.“

„Also in Mexiko warst du auch schon!“ dachte ich, während er suchte, seinen Rücken mit der Polsterecke in ein harmonisches Verhältnis zu bringen.

Er blieb nicht lange sitzen. Ausgerechnet in dem Augenblick, wo meine Gedanken aus den Fugen gingen und ein wohltätiger Schlummer mich in die Arme nehmen wollte, sagte der junge Mann „Pardon!“, schritt weit ausholend über meine ausgestreckten Beine hinweg und erging sich im Seitenkorridor. Bis ich wieder im Begriff war, einzuschlafen. Da turnte er auf dieselbe Weise wieder herein, sagte nochmals „Pardon!“ und suchte, wie wir sagen, umständlich sein Lager.

Später genügte ihm das nicht mehr. Er fragte unter vielen Entschuldigungen wegen der Störung, wie die Station heiße, durch die wir eben gekommen waren. Dann, wie die nächste Station heiße, wo die Zollgrenze sei, ob man seinen Paß zeigen müsse, und ob man den Zollbeamten bekennen müsse, daß man eine angebrochene Schachtel belgische Zigaretten in der Tasche habe.

Zuletzt frug er, wo denn die Herren hinfuhren. Nicht aus Neugier, nur um dann sagen zu können, wo er selbst hinfuhr, hauptsächlich aber, wo er herkam.

Er kam von „drüben“ - mit einer lässigen, aber bedeutungsschweren Handbewegung. Er frug, ob wir Südamerika kennen - er habe dort alle Republiken bereist. Er sei überall in den besten Hotels gewesen. Sonst könne man ja das ewige Reisen überhaupt nicht aushalten. In Brüssel wohne er dagegen immer sehr billig. Und ob wir nicht das Hotel Christobal in Panama kennen? Nein? Wie schade! Das schönste Hotel der Welt, unstreitig.

Ich frug, ob er denn das Hotel Regis in Mexiko kenne.

In seinen Augen blitzte es auf vor freudigem Stolz.

„Ob ich das Hotel Regis in Mexiko kenne! Das kann ich Ihnen sofort beweisen!“

Er sprang auf und reichte nach dem Koffer.

Wir lachten los. Er wurde stutzig und begriff.

„Ach so! Sie haben es gelesen! Sehr gut.“

Zehn Minuten später schliefen wir tief und traumlos.

Ich bin sicher, der junge Mann hat nie im Hotel Regis in Mexiko gewohnt.

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    Katalognummer BW-AK-010-2164