„Das Tagebuch“ veröffentlicht „Briefe an Sonia“, die Rosa Luxemburg 1917 im Breslauer Gefängnis geschrieben hat.
In einem dieser Briefe erzählt sie, was sie von ihrem Zellenfenster aus gesehen hatte. Soldaten trieben in den Gefängnishof Wagen, die mit rumänischen Rindern bespannt waren. Die Rinder tun ihr leid. Von den Soldaten sagt sie kein Wort. Eines der Rinder, das sich störrisch gezeigt hatte, war von einem Soldaten geschlagen worden. Die Haut war zerrissen und blutete. Das Rind machte ein Gesicht, wie ein Kind, das Schläge bekommen hatte, ohne zu wissen, weshalb. Es war darin ein rührender Ausdruck.
Der Soldat dagegen sah brutal und roh drein.
Als jemand ihm bemerkte, er solle Mitleid mit den Tieren haben, entgegnete er: „Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid!“
Als ich dies las, dachte ich an ein Bild, das mir während des Krieges anonym zugeschickt worden war. Man sah einen Wagen, der mit Soldatenleichen hochbeladen war. Die schlaffen Körper lagen kunterbunt durcheinander. Hier hing ein Kopf seitwärts herunter, dort ein Arm, dort ein Bein.
Daneben sehe ich einen Schlachthauswagen, der mit Ochsen-, Kuh- und Schweinefleisch hochbeladen ist.
Und ich weiß auf einmal nicht mehr, wie ich mich zu der Empfindung Rosa Luxemburgs stellen soll. Ob es menschlicher ist, mit geschlagenen Tieren oder mit geschlagenen Menschen Mitleid zu haben.
Sonderbar, daß wir bei einem Lendenbraten oder Kotelett kein Mitleid mit der Kreatur empfinden, die dafür hat totgeschlagen werden müssen.