Original

4. Juni 1922

Als ich noch so jung war, wie die jungen Leute, die heutzutag um 6 Uhr in der Großstraße den Corso machen und von Einstein reden, während sie an die Mädchen denken, da waren in Luxemburg mancherlei Fragen an der Tagesordnung: das Glockenspiel, die Clausener Haltestelle, die Regulierung der Piquetstraße, der Cercle-Neubau, die Elektrische, der Berlaymont, das Oktroi und - der Piff. Mit diesem kurzen und schneidigen Namen bezeichneten schon unsere Altvordern das Latrinenreinigungswesen.

Der Piff hat uns von jeher viel zu schaffen gemacht. Er beträgt sich, wie jemand, den man von vorne in sein Haus nimmt, und den man, wenn er einem lästig geworden ist, zur Hintertür hinaus auf die Straße wirft. Dort liegt er und schimpft gegen das Haus und bekommt mit der Polizei zu schaffen. Und schließlich kostet es einen Haufen Geld, ihn los zu werden.

Alle Fragen, die ich oben aufzählte, sind heute gelöst oder von der Bildfläche verschwunden. Nur der Piff macht uns noch immer Sorgen.

Heute heißt er: Schwemmkanalisation. Es ist länger, aber nicht schöner.

Die Schwemmkanalisation ist ein Bandwurm, von dem ab und zu ein Stück abgeht. Nur der Kopf will immer noch nicht kommen.

Aber wir haben die Beruhigung daß die städtische Bauverwaltung, das sogenannte Tiefbauamt, immer noch den Kampf mit dem Bandwurm nicht aufgegeben hat. Es baut immer tiefer. Des Morgens in aller Frühe wird Groß-Luxemburg durch dumpfe Schläge erschüttert. Man dreht sich im Bett herum und denkt: Aha, die Schwemmkanalisation! Sie rücken dem Bandwurm mit Dynamit zu Leib. Demnächst wird es im Stadtrat wieder heißen: Schwemmkanalisation, 37. Los, definitive Abnahme der Arbeiten. Und ein Stadtvater wird fragen: Wann werden diese Arbeiten endlich fertig?

Was der Schöffenrat darauf antwortet, ist ja egal. Die Arbeiten werden ja doch niemals fertig. Niemals! Es gab einmal ein einfaches Mittel, sie in kürzester Frist fertig zu machen. Man brauchte sie nur der Wiesbadener Städtereinigungsgesellschaft zu übergeben. Aber das war zu einfach.

Wir haben von der Wiege bis zum Grabe immer einen Vorwand, weiter leben zu wollen. Erst bis wir in die Schule kommen, dann bis wir aus der Schule sind, bis wir heiraten, bis wir Kinder haben, bis die Kinder groß sind, bis sie heiraten, bis sie wieder Kinder haben, bis die Enkel heiraten, bis der Krieg aus ist, bis wirklich Friede wird, bis die Butter wieder 22 Sous kostet, bis das Gold wieder zum Vorschein kommt, bis die Russen ihr Gestohlenes wieder herausgeben, bis die Welt zur Ruhe kommt - bis die Schwemmkanalisation fertig ist.

Aber wann?

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  • public hygiene - Piff
KatalognummerBW-AK-010-2168