Original

10. Juni 1922

„Sie sind die richtigen Freiluftmenschen!“, sagte mir am Dienstag morgen ein belgischer Zeitungsmann.

„Es geht“, meinte ich.

„Sie können, wenn Sie wollen, Ihre Nächte bei Wein, Weib und Gesang unterm Sternenhimmel verschwärmen, statt in dumpfen Lokalen zu hocken, Tabakdampf zu schlucken und dazu Alkohol in allerhand verdächtigen Formen zu vertilgen.“

„O ja“, sagte ich und suchte zu ergründen, wo er denn gewesen war.

Ich dachte an den Staudenwirt süffigen Andenkens, der sein Bierställchen im Laternengässel mit „herrlicher Aussicht in’s Gebirge“ anzupreisen pflegte.

Hatte sich der Brüsseler Kollege in einem ähnlichen Lokal festgekneipt und wollte er mich uzen?

Da ich ein Feind unklarer Situationen bin, frug ich ihn auf den Kopf zu:

„Wo haben Sie denn Ihre Nacht unterm Sternenhimmel verjubelt?“

«Chez Jean», sagte er.

Um es kurz zu machen: Er war am Montag abend nach einem Spaziergang im Park, wo er sich von den Strapazen der Mosel- und Sauerfahrt einigermaßen erholt hatte, in die Gartenwirtschaft Jean Wengler an der Merlerstraße geraten, hatte gleich Bekanntschaft mit dem Wirt gemacht, der ihn einer lustigen Gesellschaft von jungen Leuten beiderlei Geschlechts vorgestellt hatte, erinnerte sich, daß er mit einer reizenden jungen Dame namens Ninette im Morgengrauen Smollis getrunken hatte und erklärte, er werde lieber auf die Echternacher Springprozession verzichten und dafür versuchen, ob er abends Fräulein Ninette wieder bei Jean treffen könnte. Er wußte genau über die Größenverhältnisse des Gartens, über die Zahl der Stühle (450 Stück) über Küche und Keller des Wirtes Bescheid, wußte, wie die Bedienung mit Vor- und Zunamen hieß, wieviel Waggonladungen Moselkies zur Bestreuung gebraucht worden waren, wieviel Fuder 21er erstklassiger Kreszenzen sein Freund Jean - er war mittlerweile sein Freund geworden - an Mosel und Saar gekauft hatte, ob im Kaffee der Quetsch oder Kirsch oder die Mirabelle besser schmeckte - er kannte die Stammgäste mit Namen, hatte sich von Frl. Ninette übersetzen lassen, was sie sagten und worüber die Corona lachte und fragte mich zuletzt, ob an unsrer Zeitung nicht zufällig eine Stelle für ihn frei sei.

„Solchen Garten müßten wir in Brüssel haben!“ sagte er ein übers andre Mal.

„Ich wünsche es Euch von Herzen!“ entgegnete ich. „Und ich bin überzeugt, wenn dann ein Luxemburger nach Brüssel in Euern Garten käme, so würde er sagen: „Ach, warum haben wir kein solches Lokal in Luxemburg!“

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KatalognummerBW-AK-010-2172